Meisterin der Runen
Kopf. »Das ist nicht möglich!« Ihr Blick flackerte wie im Wahn.
»Was ist nicht möglich?«, fragte Emma. »Dass das Geheimnis dieser Runen so machtvoll ist? Nun, was immer hier steht – ich kann mir tatsächlich nicht vorstellen, dass es die Zukunft unseres Landes ernsthaft bedroht … Mein Vater hat all seine Feinde überlebt. Und nun, da der letzte Karolinger gestorben ist und er sich früh genug Hugo Capets Freundschaft gesichert hat, ist das Frankenreich sein engster Verbündeter. Sogar mit Flandern hat er Frieden geschlossen.«
Sie schien die Fassung wiedergefunden zu haben und sprach altklug wie so oft, doch Agnes entging nicht, dass ihr Gesicht immer noch bleich war.
Wevia schüttelte erneut den Kopf. »Das meinte ich nicht«, sagte sie schnell. »Es ist möglich, dass die Mönche um diese Schriften wissen, jedoch sind sie der Runen nicht kundig. Sie könnten gar nichts damit anfangen, selbst wenn sie sie in die Hände bekämen. Niemand könnte das. Hier am Hofe beherrsche nur ich das Deuten der Runen … und Gunnora. Die dritte Frau, die diese Kunst verstand, ist seit langen Jahren tot.«
Sie seufzte schwer.
»Bruder Remi meinte, ein sterbender Mitbruder habe ihm das Geheimnis anvertraut«, sagte Agnes.
»Ein Mönch war auch dieser!«, rief Wevia. »Und folglich ebenfalls nicht in der Lage, die Runen zu deuten. Gottlob! Wenn die Mönche wirklich wissen würden, was hier steht, dann würden es bald sämtliche Bischöfe erfahren. Lieber Himmel, kaum auszudenken, wie sie es aufnehmen würden! Und außerdem: Wenn sich erst unter den Heiden, die hierzulande leben, das Gerücht verbreitet, dass …«
Sie biss sich auf die Lippen, ehe sie sich verriet, ging wieder eine Weile kopflos auf und ab, um das aufgewühlte Gemüt zu beschwichtigen, ohne auf Emmas Frage, was nun zu tun sei, zu hören.
Agnes selbst stellte keine Fragen, sondern war in Gedanken versunken. Etwas war an der Sache merkwürdig. So zielstrebig, wie die Mönche das Gemach der Gräfin durchsucht hatten, sah es nicht so aus, als würden sie nach Schriften fahnden, die sie gar nicht lesen konnten.
»Vielleicht … vielleicht haben sie gar nicht danach gesucht!«, platzte sie schließlich mit einer jähen Erkenntnis heraus. »Vielleicht wussten sie gar nicht, dass auch diese … Runen existieren, sondern hatten ein ganz anderes Dokument im Sinn.«
Wevia starrte sie an, und plötzlich stand ihr Erleichterung im Gesicht geschrieben. »Gott stehe uns bei, wenn es so wäre!«, rief sie und bekreuzigte sich.
Agnes indes ging verspätet auf, was die Worte der Älteren tatsächlich bedeuteten. Ganz offensichtlich verrieten die Runen etwas, was niemand über die Gräfin wissen durfte. Die Schriften, die die Mönche in Wahrheit gesucht hatten, taten das aber wohl auch. Folglich gab es nicht nur ein Geheimnis, das die Zukunft des Landes bedrohte, sondern derer zwei.
Und noch etwas anderes erkannte sie: Während sie die Runenschrift vor den beiden Gottesmännern in Sicherheit gebracht hatten, lagen alle anderen Pergamentrollen noch im Gemach der Gräfin. Vielleicht hatten Bruder Remi und Bruder Ouen die Suche nach den Mädchen längst aufgegeben und stöberten erneut in der Truhe, und dieses Mal würde niemand sie davon abhalten, sie zu finden und ihre dunklen Pläne wahr zu machen.
»Gütiger Gott, wir müssen …«, setzte sie an.
Weiter kam sie nicht. Niemand hatte gehört, dass sich Schritte genähert hatten, doch als sie herumfuhr, erkannte sie, dass sie nicht länger allein in der Kapelle waren. Emma zuckte zusammen, Wevia versteckte die Runenschrift zu spät unter ihrem Kleid. Agnes suchte nach einer Ausrede, die erklärte, warum sie sich hier versammelt hatten, doch ihr fiel keine ein.
IX.
965
Die Wochen vergingen, Gunnoras Leib rundete sich, aus den zarten Berührungen, Flügelschlägen von Vögelchen gleichend, die in ihrem Bauch gefangen schienen, wurden feste Tritte. Sie freute sich, dass ihr Kind kraftvoll und lebendig schien – sie selbst war es nicht. Nie hatte sie sich so träge gefühlt, nie so leer, obwohl doch ein Kind in ihr wuchs. Gewiss, sie wollte, dass es ihm gut ging, aber vermeinte zugleich, dass es ihr nicht gehörte und sie das Recht verwirkt hätte, von seinem Wohlbefinden zu zehren.
Früher hatte sie Wald und Einsamkeit vermisst, jetzt waren es Geschäftigkeit, eine Aufgabe – und vor allem zu reden. Duvelina und Wevia ließen sie kaum aus den Augen, aber ihnen konnte sie nicht anvertrauen, dass sie sich immer
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