Meisterin der Runen
noch besudelt fühlte von Agnarr und dass sie die Einsicht grämte, sich in all den Jahren geirrt zu haben. Sie sehnte sich danach, Schach zu spielen, politische Ränkespiele zu deuten, ja sogar bei Richard zu liegen. Nie hatte sie sich ihm ganz und gar gegeben – war auch ihr Körper willig gewesen, ihre Seele war es nicht. Aber in einer Welt, in der sie zu oft gefroren hatte, genügte selbst das, um sich geborgen zu fühlen. Jetzt war ihr der eigene Körper fremd, und die Blicke, die sie trafen, taten weh. Einige waren neugierig, die meisten verächtlich und am unerträglichsten der von Alruna, Mathildas Tochter.
Diese war nie freundlich zu ihr gewesen, doch ihre Augen hatten geglänzt. Nun wirkte sie verbittert, abgestumpft, wie versteinert. Wenn es mir gelänge, die unendlich weite Kluft zu überwinden und zu Alruna durchzudringen, würde sie erkennen, dass wir uns ähnlich sind, dachte Gunnora manchmal. Doch die Trägheit besiegte jedes Trachten, am Geschick anderer Anteil zu nehmen. Sie schnitzte keine Runen, die ihrem Kind zum Segen gereichen würden, sie erzählte den Schwestern keine Geschichten über die Götter mehr, sie schlief viel und aß wenig.
Zu wenig, wie Mathilda eines Tages befand.
Lange Zeit hatte sie sie gemieden, doch nun gab sie sich einen Ruck, betrat die winzige Kammer, in der Gunnora mit den Schwestern wohnte, und scheuchte Wevia und Duvelina hinaus.
»Iss!«, befahl sie und stellte eine Platte mit Pökelfleisch vor Gunnora, außerdem einen Humpen mit Skyr, einer Art Dickmilch, und zwei Äpfel.
Gunnora starrte auf das Essen, die Kehle war ihr wie zugeschnürt. »Warum sorgst du dich um mich? Ich dachte, du würdest mich hassen.«
Mathilda schwieg eine Weile. »Hass ist ein zu starkes Gefühl«, erklärte sie schließlich. »Er zerfrisst die eigene Seele, anstatt dem Feind zu schaden. Du hast mich enttäuscht, das ist alles.«
Die Worte waren kein Trost. Ob sie sie nun hasste oder nicht – Gunnora vermisste Mathildas anerkennendes Lächeln allzu schmerzlich.
»Damals im Wald«, sagte sie leise, »habe ich nur bei Richard gelegen, weil er meine Schwester begehrte. Sie war verheiratet und wollte ihrem Mann diese Schande nicht antun. Richard hat gar nicht bemerkt, in welche Bedrängnis er sie damit brachte … und erst recht mich.«
Mathilda nickte nachdenklich. »Ich will Richard gewiss nicht entschuldigen, aber manchmal kann er so blind sein. Er muss es wohl sein, um das Leben zu ertragen. Er würde wahnsinnig werden, wenn er alles sähe … gerade jetzt.«
Gunnora beugte sich vor und nahm von dem Essen. Das Fleisch war würzig und weich, und ihr Hunger größer als gedacht. Sie verschlang es gierig, und es fühlte sich gut an, satt zu sein. Noch besser fühlte es sich an zu reden.
»Wie … wie steht es um die Normandie? Wie groß ist die Bedrohung durch die Heiden aus Dänemark?«
Mathilda zögerte kurz, aber setzte sich dann doch zu ihr. »Groß, sehr groß«, erwiderte sie betrübt. »Dieses Land war immer zerrissen zwischen denen, die sich die fränkische Kultur aneigneten, und jenen, die den alten Bräuchen nachhängen, und Richards Herrschaft wurde stets von dieser Kluft bedroht. Den einen ist er zu wenig christlich, den anderen zu viel. Ganz am Anfang seiner Regentschaft, er war noch kaum erwachsen, suchten Turmod und Sigtryggr das Land heim. Sie führten Truppen an, hetzten das Volk auf, sich nicht taufen zu lassen, und fanden vor allem im Cotentin, jener Provinz im äußersten Westen des Landes, großen Rückhalt. Die beiden sind längst tot, aber noch immer leben dort viele ihrer einstigen Anhänger und treffen sich regelmäßig zum Thing. Von den Dänen, die eigentlich zu Richards Schutz kamen, fühlen sie sich bestärkt, und erst recht …« Sie stockte.
»Und erst recht von Agnarr«, schloss Gunnora den Satz.
Sie nahm noch mehr von dem Essen, schluckte es und schluckte auch den Namen.
»Mein Mann ist nicht sicher, wie stark Agnarr wirklich ist, aber wenn seine Truppen Richard angreifen … nun, vielleicht können sie ihm seine Macht nicht rauben, ihm jedoch empfindlich schaden. Und seine Feinde in den Nachbarländern warten wie Hyänen, ob es auch nur die geringste Schwäche an ihm zu wittern gibt.«
»Das wollte ich nicht«, murmelte Gunnora. »Ich wollte Rache für den Tod meiner Eltern, aber ich wollte ihn nicht vernichten.«
Mathilda seufzte. »Seit Monaten ziehen viele Dänen – ob nun aus Langeweile, erzwungenem Nichtstun oder schlichtweg aus Gier nach
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