Meisterin der Runen
nachdem Raouls Schritte verhallt waren.
»Ich weiß«, sagte sie schnell, »seit Jahren tut er alles, um die Heiden im Land gegen dich aufzuhetzen. Er hat meine Eltern getötet, um …«
»Still!«, unterbrach er sie wieder. »Ich will nichts hören.«
Allzu deutlich hörte sie aus seiner Stimme Kränkung, Verletzung, Schmerz. Mathildas Worte kamen ihr in den Sinn, wonach sie sein Herz gewonnen hatte. Ja, sie war ihm nahegekommen, näher als je ein Mensch, und jetzt bereute er es – und ihr tat es unendlich weh, dass er das tat.
Wenn er mich nur einmal noch zärtlich berühren würde, könnte ich Agnarr vergessen, dachte sie. Wenn er durch mein Haar führe, müsste ich niemals wieder daran denken, wie Agnarr daran gerissen hat.
Aber er berührte sie nicht, er strich ihr nicht durchs Haar, er würde es wohl niemals wieder tun.
»Es gibt genügend Menschen, die meinen, dass du den Tod verdient hättest«, sagte er stattdessen kalt.
Gunnora straffte den Rücken.
»Keine Angst!« Höhnisch klang nun seine Stimme, metallisch. »Ich werde dich nicht töten. Geh einfach, geh in den Wald. Du bist frei. Du kannst bei deiner Schwester leben, der Frau des Waldhüters.«
Gunnoras Körper versteifte sich noch mehr. »Ich … ich will das nicht. Ich will hierbleiben.«
Nicht länger war er Herr seiner Züge. Überrascht riss er die Augen auf, voller Unverständnis … und Zorn. »Du wagst es? Nach allem, was du getan hast? Du hast Begehren geheuchelt, obwohl du mich gehasst hast!«
»Ich hasse dich nicht. Nicht mehr.«
»Was hat deine Meinung geändert?«
Sie öffnete den Mund, wollte ihm alles erzählen, von Agnarr, ihrer Begegnung mit ihm und dass sie verwundet bliebe auf ewig, wenn niemand sie festhielte und sie tröstete. Doch sie ahnte, er würde ihr nicht zuhören wollen. Also atmete sie tief durch und beschränkte sich auf einen schlichten Satz – einen Satz, den sie bislang kaum zu denken gewagt hatte, obwohl sie in ihrem Innersten wusste, dass es wahr war.
»Ich … ich bekomme ein Kind.«
Kurz leuchteten seine Augen auf, kurz zuckten seine Mundwinkel verräterisch, doch er unterdrückte jeden Anflug von Glücksgefühl sofort. Er wandte sich ab, überlegte lange und hielt ihr immer noch den Rücken zugewandt, als er schließlich heiser antwortete.
»Ich habe immer für meine Bastarde gesorgt, und das werde ich auch dieses Mal tun. Meinetwegen kannst du bleiben, aber ich will dich nie wiedersehen. Geh mir künftig aus dem Weg!«
Sie hatten die Siedlung verlassen müssen. Zu groß war die Furcht, dass die schwarze Dänin nach Rouen zurückkehren und dort ihren Aufenthaltsort verraten könnte. Agnarr hatte sich nie heimisch gefühlt, doch als auf seinen Befehl hin die Langhäuser in Flammen aufgingen, tat ihm das Herz weh. Die Flammen schienen ein Lied zu singen, klangvoll und verlockend.
Komm näher, umarme uns, dann schenken wir dir Vergessen.
Kurz war er geneigt, ihnen zu glauben. Wenn nichts mehr von ihm bliebe als Asche, müsste er nicht länger die Schmach fühlen, dass die Dänin noch stärker als Berit war, nicht diese blinde Wut, die auf nichts als Zerstörung aus war, nicht die Angst, ewig ein Gescheiterter zu bleiben.
Doch er widerstand der Versuchung, blieb den Flammen fern und trieb seine Gefolgsleute die Küste entlang, am graugrünen Meer vorbei, dessen Wellen gleichfalls sangen.
Besteige ein Schiff, kehre in die dänische Heimat zurück, beginne dort, wo niemand weiß, dass du der Mörder deines Vaters bist, neu. Wie willst du Richard vom Thron stoßen, wenn du nicht einmal eine Frau überwältigen konntest, obwohl du bewaffnet warst und sie dir schutzlos ausgeliefert?
Die Möwen sangen nicht, sie schrien. Es klang wie ein höhnisches Lachen, und er öffnete den Mund, um etwas dagegenzuhalten.
»Die meisten Dänen haben sich entlang der Dives oder der Seine angesiedelt. Wir müssen sie aufsuchen, ihnen klar machen, dass Richard nicht daran denkt, ihnen Land zu geben, dass er sie vielmehr nur benutzt, um das Frankenreich heimzusuchen und seine Gegner zu schwächen, und dass er sich nicht darum schert, wie viele bei diesen Raubzügen den Tod finden. Warum aber gehen sie überhaupt ins Frankenreich, warum fallen sie nicht über hiesige Klöster her, Jumièges oder Saint-Wandrille, nicht minder reich als die der Nachbarländer? Außerdem müssen wir uns der Menschen im Cotentin annehmen. Nirgendwo gibt es so viele Heiden wie dort, bislang fehlt ihnen nur der Führer, um gegen Richard zu
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