Meisterin der Runen
allein, so wie damals vor jener denkwürdigen Nacht. Sein Gesicht war grau und kummervoll.
Er leidet immer noch … wegen ihr , ging es ihr durch den Kopf.
Als er aufblickte und sie erkannte, zuckte er zusammen. Nicht länger stand Schmerz in seiner Miene, nur das schlechte Gewissen, und das überreich.
»Alruna …«
Der Stolz schrie wieder: Lass ihn nicht wissen, was du fühlst. Ihr Herz schrie lauter.
»Ich liebe dich, ich habe dich immer geliebt, du wolltest es mir früher nicht glauben, und als du mir endlich glaubtest, wolltest du nichts davon hören. Aber es ist so, und es wird so bleiben. Ich ertrage es nicht, dass du mir aus dem Weg gehst, dass du nicht mit mir sprichst. Lieber bin ich dir eine kleine Schwester als gar nichts …«
Er wirkte bestürzt und, was noch schlimmer war, beschämt.
»Es tut mir so leid«, flüsterte er.
Sie wusste sofort – er meinte es ernst. Das stärkste Gefühl, das sie in ihm wecken konnte, war Reue.
»Es tut mir so leid«, wiederholte er und leckte sich über die Lippen, »dass ich mich dazu habe hinreißen lassen … dass ich dich benutzt habe … dass ich nicht daran dachte … an deine Ehre … deine Eltern … ich habe vergessen, dir Respekt entgegenzubringen, Respekt, den du verdienst …«
Er geriet ins Stammeln, fand immer weniger Worte, um das zu benennen, was in seinen Augen nur verachtenswerte Schwäche war, in ihren Augen hingegen das Schönste, das sie je erlebt hatte.
Ja, jetzt da sie vor ihm stand, konnte sie sich wieder an die Nacht erinnern, und in der Erinnerung waren seine Berührungen zärtlich, sein Geschmack süß, seine Nähe lustvoll.
Er hingegen hatte keine Erinnerungen, und falls doch, wollte er sich ihnen nicht hingeben. Wieder schrie ihr Stolz, und dieses Mal überhörte sie ihn nicht.
Ihre Stimme klang trotzig und zischend, als sie bekannte: »Ich bereue es nicht.«
Doch sie hatte ihren Stolz zu lange unterdrückt; er war zu leise, um sein schlechtes Gewissen zu übertönen.
»Es hätte nie geschehen dürfen!«, rief er und duckte sich, als wollte er sich vor ihr verneigen.
Du bist doch ein Graf!, schrie sie innerlich. Du beugst dich vor niemandem, warum bist du plötzlich so kleinlaut, warum so skrupelhaft, warum nicht ein Mann wie die meisten deiner Krieger – eiskalt, eigennützig, dreist bekennend: Ich habe mir genommen, was ich wollte, na und?
Aber er hatte es ja gar nicht gewollt. Sein Wille war vom Wein betäubt gewesen.
»Ich wusste nicht, dass du so viel für mich fühlst«, murmelte er.
»Doch«, beharrte sie. »Du wusstest es wohl, aber es machte keinen Unterschied für dich.«
Ihre Stimme brach, als sie sich zum Gehen wandte. Sie kam nicht weit, denn in der Tür stand Raoul. Wie lange er sie schon belauschte, gab sein rätselhaftes Grinsen nicht zu erkennen.
Alruna fühlte sich ertappt und bloßgestellt, doch dann begriff sie, dass er sie gar nicht beachtete, dass sein Blick vielmehr starr auf Richard gerichtet war.
»Sie … sie ist wieder da«, sagte er leise.
Richard wusste sofort, wer gemeint war, und Alruna auch. In der Woche, da sie dachte, schwanger zu sein, hatte sie stets mit Übelkeit gerechnet, jetzt wurde sie davon übermannt.
Um sich nicht übergeben zu müssen, schrie sie: »Wie kann sie es nur wagen?«
Raoul zuckte die Schultern, Richard hingegen hob den gesenkten Kopf. Er wirkte nicht mehr kleinlaut oder schuldbewusst, er war wieder der Graf, der der Unterwerfung anderer harrte, anstatt sich selbst zu beugen. Kalt war sein Gesicht, kalt und verschlossen.
Die Übelkeit schwand, als sie begriff, dass es in seinem Mund gewiss noch galliger schmeckte als in ihrem.
Es war gut so. Er konnte ihr nicht vergeben. Er durfte es nicht.
Gunnora hatte die Tage nicht gezählt, die seit ihrer Flucht aus Rouen vergangen waren. Damals hatten die Bäume noch nicht geblüht, jetzt standen sie in sattem Grün, und die Halme färbten sich golden. Zwei Monde waren es gewesen, doch auch wenn sie vermeinte, ein halbes Leben läge dazwischen – es war nicht lange genug, um vergessen zu werden. Erst trat sie durch das große Tor in die Stadt, dann durch ein kleineres Tor in die gräfliche Pfalz, und sofort richteten sich sämtliche Blicke auf sie. Selbst die, die sie nicht erkannten, starrten verwundert auf die Frau, die so verschmutzt war und doch so hoheitsvoll wirkte.
Gunnora hatte gehofft, dass sie als Erstes mit Mathilda sprechen konnte, doch als diese auf den Hof geeilt kam, versetzte es ihr einen
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