Meisterin der Runen
schmalen Schultern zu wuchten.
An einem regnerischen Tag, als alle damit beschäftigt waren, sich für die Rückkehr nach Rouen zu rüsten, nutzte sie die Gelegenheit und schlich heimlich ins Zimmer der Gräfin. Diese, so hatte sie eben erst erfahren, hatte es nach Wochen wieder verlassen, um den Gottesdienst zu besuchen.
Nicht, dass sie damit rechnete, dass die Runenschriften, die die Mutter ihr gewiss mittlerweile wieder ausgehändigt hatte, ausgerechnet hier versteckt waren; und kaum weniger wahrscheinlich war, auf jenes Schriftstück zu stoßen, auf das die Mönche aus waren und das das andere Geheimnis verriet. Aber allein der Anblick von Pergament und Tinte auf dem Schreibpult löste ein Kitzeln in ihrer Magengegend aus.
Ob die Gräfin mit gleicher Feder einst auch die Runen geschrieben hatte?
Sie selbst hatte solch eine Feder nicht oft gehalten – fürs Schreibenlernen benutzte sie Wachstafel und Griffel –, nahm sie nun aber zögerlich in die Hand. Wenn sie Buchstaben schrieb, gerieten diese meist krummer und kleiner als die von Emma, aber sie war sich sicher, dass sich Emma keine der Runen gemerkt hatte, nicht so gut wie sie zumindest. Ob sie zustande bringen würde, eine zu schreiben?
Ganz vorsichtig setzte sie die Feder an, doch sie hatte die erste Rune kaum vollendet, als sie zusammenzuckte. Hinter ihr war ein Räuspern erklungen, und als sie herumfuhr, erblickte sie die Gräfin, streng, hoheitsvoll, schön. Man sah ihr die Trauer nicht an, umso mehr jedoch das Alter. Nicht nur, dass Falten ihr Gesicht furchten, überdies waren viele Strähnen ihres schwarzen Haares ergraut, was selbst unter dem Schleier, den sie trug, deutlich zu erkennen war. In ihren Zügen stand Tadel, doch als sie näher trat und sah, was Agnes geschrieben hatte, erbleichte sie.
»Kind, was machst du da?«
So schrill hatte Agnes die Gräfin noch niemals sprechen hören. Also verlieh nicht nur Wissen Macht …
»Ich bin zehn, ich bin kein Kind mehr«, erklärte sie trotziger, als sie jemals gegenüber der Gräfin zu sprechen gewagt hatte.
Deren Ausdruck wurde etwas nachsichtiger. »Du hast noch nie Hunger gelitten, nie Tote gesehen, die nicht friedlich im Bett starben, nie an einem kalten Tag unter freiem Sternenhimmel geschlafen. Glaub mir, du bist ein Kind – und du kannst dafür dankbar sein.«
Agnes musste ihr recht geben und wollte sich dennoch nicht einschüchtern lassen. »Ein Kind hätte Euch kürzlich nicht vor den heimtückischen Plänen zweier durchtriebener Mönche bewahrt«, erklärte sie. »Ich allein habe sie aufgehalten, als sie unbefugt Euer Gemach betraten.«
Die Gräfin lächelte milde. »So wie du es heute betrittst«, sprach sie mit leisem Spott, um hastig hinzuzufügen: »Aber du hast recht. Deine Mutter hat mir von deinem mutigen Eingreifen berichtet und dass du diese … Schriften vor den Mönchen gerettet hast. Ich hatte bislang keine Gelegenheit, mich dafür zu bedanken. Ich tue es jetzt.«
Noch wenige Wochen zuvor hätten diese Worte Agnes mit glühendem Stolz erfüllt, heute aber waren sie ihr zu wenig.
»Ein Kind wüsste auch nicht von deinen Geheimnissen«, fuhr Agnes unerbittlich fort.
Das Lächeln schwand wieder von den Lippen der Gräfin. »Wovon sprichst du? Und warum hast du diese … Rune geschrieben?«
Agnes atmete tief durch. So oft hatte sie gehört, dass man die Gräfin eine sehr kluge Frau nannte, aber in diesem Augenblick war sie sich plötzlich sicher, dass sie sie an der Nase herumführen könnte.
»Meine Mutter hat mir alles erzählt«, sagte sie leise. »Was Ihr damals getan habt … und auch warum.«
Kurz fürchtete sie, die Lüge wäre zu dreist, und die Antwort, die sie darauf erhalten würde, kein Bekenntnis, sondern ein scharfer Tadel. Kurz war sie auch sicher, dass der Gräfin unmöglich entgehen würde, wie glühend rot sich ihr Gesicht färbte und dass dies Ausdruck tiefster Verlegenheit war.
Doch statt sie auszulachen oder zu schelten, wurde sie rot vor Zorn. »Deine Mutter hat dir alles verraten?«, schrie sie.
Kein Laut hatte Agnes jemals so zugesetzt. Zu weit … ich bin viel zu weit gegangen, fuhr es ihr durch den Kopf.
Anstatt einzuknicken, sah sie die Gräfin jedoch herausfordernd an und nickte. Eine Weile stand die Gräfin ganz steif, dann ergriff sie Agnes’ Arm. Es tat so weh, dass sie am liebsten ihre Lüge bekannt und bekräftigt hätte, dass auf die Verschwiegenheit ihrer Mutter weiterhin Verlass war, doch sie beherrschte sich mühsam, wollte
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