Meisterin der Runen
jetzt versuchte, das Gesicht der Schwester heraufzubeschwören, erschien ihr diese nicht stark, sondern ängstlich.
Sie wälzte sich einmal mehr hin und her, nickte doch noch ein, verlor sich in wirren Träumen, und als sie erwachte, blieb Seinfredas Gesicht in ihren Vorstellungen ein blinder Fleck. War zu viel Zeit seit ihrem letzten Zusammensein vergangen, sodass sie sich nicht mehr an sie erinnern konnte? Doch auch wenn ihre Züge hinter einem Nebel verborgen waren, ihre Stimme konnte sie förmlich hören … die Stimme, die nun sagte: Gefahr … ich bin in Gefahr … wir alle sind es …
Gunnora richtete sich auf, spitzte die Ohren. Seinfredas Stimme in ihrem Inneren verklang, aber sie hörte etwas anderes. Kein heftiger Atem verriet den Mann in ihrem Zelt, kein lauter Schritt, kein Ächzen, als er sich zu ihr beugte, und doch vermeinte sie, einen fremden Herzschlag zu hören, holpriger noch als ihrer.
Ehe sie herumfahren konnte, legte sich eine Hand auf ihren Mund.
»Still! Keinen Mucks! Niemand darf wissen, dass ich hier bin!«
F ÉCAMP
996
Mehrere Tage waren vergangen, seit der Graf begraben worden war. Schon kaum eine Stunde nach seinem Tod waren erste Legenden im Umlauf gewesen, die allesamt Gottes Wohlwollen für den Grafen belegen sollten, und täglich kamen weitere Geschichten hinzu. Wenn Agnes sie hörte, bedauerte sie es doch, nicht an der Seite des Sterbenden auf den Tod gewartet und nur aus zweiter Hand von all den Wundern erfahren zu haben, die sich in dieser Stunde offenbar zugetragen hatten.
Immerhin: Sie hatte den Leichnam zu sehen bekommen, und auch um diesen Leichnam rankten sich rasch Gerüchte. Robert, ein Sohn des Grafen und zugleich Erzbischof von Rouen, war zu spät gekommen, als dass er dem sterbenden Vater hätte Lebewohl sagen können. Er traf erst ein, als dieser schon begraben war. Um doch noch gebührend Abschied nehmen zu können, ließ er den Toten wieder exhumieren, und das in Gegenwart einiger weniger Auserwählter, die hinterher bezeugten, dass dem Leichnam köstliche Gerüche entströmt waren. Die Versammelten wähnten sich nicht in einer Gruft, sondern in einem Rosengarten, priesen Gott und sprachen Gebete, ehe sie den Grafen endgültig zur Ruhe betteten – in einer Kapelle, die dem heiligen Thomas gewidmet war und die sich über einer Grotte befand, aus der stetig eine Quelle floss. Ein passender Ort sei das, hieß es, denn solcherart könne das Wasser den Grafen von allen Sünden reinwaschen, die er zu Lebzeiten noch nicht abgebüßt habe.
Agnes war sich sicher, dass es nicht viele waren, sonst hätte sein Leichnam nicht nach Rosen geduftet, aber das sagte sie nicht laut. Gemeinsam mit Emma spielte sie mit den Kindern des Erzbischofs. Wie viele seiner Zunft war auch Robert von Rouen verheiratet, mit einer gewissen Herleva, von der es hieß, sie sei eine wunderschöne Frau. Agnes fand sie nicht schön und die Kinder lästig. Viel lieber hätte sie die Zeit genutzt, um mehr über die Geheimnisse der Gräfin zu erfahren, doch diese hatte sich in ihrer Trauer gänzlich zurückgezogen.
Ihre Mutter gab sich in diesen Tagen so gleichmütig, als hätten die Runenschriften nicht eben erst großes Entsetzen in ihr ausgelöst. Auch Wevia ließ sich nicht die geringste Erschütterung anmerken, sie betete jedoch häufiger in der Kapelle als zuvor – an der Seite vieler Mönche, darunter Bruder Remi und Bruder Ouen.
Agnes wusste nicht, was die Mutter mit der Gräfin besprochen hatte und ob diese den Kanzler Dudo um Hilfe gebeten hatte, um der beiden Herr zu werden. In jedem Fall war sie gewarnt und konnte unliebsame Dokumente verschwinden lassen, und wenn Agnes die beiden Mönche heimlich beobachtete, wirkten sie kleinlaut und hilflos und zeigten keinerlei Trachten, erneut das Gemach der Gräfin aufzusuchen.
Manchmal überkam Agnes das Gefühl, alles nur geträumt zu haben – dann wieder brannte sie, endlich mehr zu erfahren. Und noch etwas schlummerte in ihr und erwachte dann und wann zum Leben, was sie nicht benennen konnte: nicht einfach nur Neugier, sondern der Wunsch nach Macht. Ja, wenn sie in den letzten Tagen etwas gelernt hatte, dann dies: Wissen war Macht, und mit ihm konnte man Menschen weit energischer zusetzen als mit dem schärfsten Schwert. Letzteres wäre zu schwer für sie gewesen, das Gewicht des Wissens aber, so war sie sich trotz aller Furcht und allen Unbehagens gewiss, würde sie schon zu stemmen wissen. Leider dachte nur niemand daran, es auf ihre
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