Meisterin der Runen
einen. Du hast sicher von den vielen aufrührerischen Bauern gehört, vor allem Iren darunter, die sich hier angesiedelt haben, sich jedoch unseren Gesetzen nicht beugen wollen.«
Agnes konnte sich vage erinnern, dass bei Hofe aufgeregt darüber gesprochen worden war. Sie und Emma hatten sich ausgemalt, wie diese wilden Iren aussahen. So neugierig sie darauf war, einem von ihnen einmal leibhaftig zu begegnen – der Wunsch, endlich das zweite Geheimnis zu erfahren, war größer. Wieder fragte sie danach, und wieder tat die Gräfin so, als hätte sie sie nicht gehört.
»Außerdem stehen wir in einem Konflikt mit England«, fuhr sie fort. »Der dortige König wirft uns vor, dass die Normandie Ausgangspunkt für Raubzüge von Nordmännern sei. Zwar wurde jüngstens Frieden geschlossen, aber die Feindseligkeiten können jederzeit erneut aufflackern. So abwegig ist das Ansinnen von Bruder Ouen und Bruder Remi gar nicht. Es gibt nicht wenige Menschen, die insgeheim denken, sie hätten es leichter, wäre unser Land Teil des fränkischen Reichs. Nicht alle von ihnen zählen zum geistlichen Stand, und es geht ihnen weniger um hohe Politik als ums schlichte Überleben. Und oft glaubt man, dieses wäre leichter, könnte man die Vergangenheit hinter sich lassen und ein anderer sein, in diesem Fall nicht länger Normanne, sondern Franke …«
Agnes nickte wieder vermeintlich verständig, wurde aber immer ungeduldiger. Sie deutete auf die Runen und wollte das Stück Pergament ergreifen, doch ehe sie es berührte, nahm die Gräfin es an sich. Sie studierte die Schriftzeichen, runzelte die Stirn, und ehe Agnes es sich versah, begann sie, diese abzuschaben.
»Ich hätte die Runen nie aufschreiben dürfen … und nie so lange aufbewahren. Ich dachte, dass ich auf diese Weise Agnarr vergessen könnte, aber selbst auf Pergament gebannt, konnte er noch seine zerstörerische Macht entfalten. Und zu glauben, ich wäre ganz und gar eine andere geworden und hätte meine Vergangenheit hinter mir gelassen, solange diese verborgen in einer Truhe lag, war gleichfalls ein Irrtum.«
»Wevia«, murmelte Agnes, »Wevia konnte die Runen lesen. Obwohl du eben noch gesagt hast, du wärest die Einzige bei Hof, die sie deuten kann …«
»Auch darin habe ich mich wohl getäuscht«, gab die Gräfin zu. »Ich habe immer gedacht, dass Wevia glücklich wäre, besäße sie nur genügend Schmuck. Die Wahrheit ist, dass sie sich, selbst reich mit Ketten behängt, immer nach unseren Eltern sehnte und sie sich ihnen näher fühlte, als sie die Runen zu schreiben und zu deuten lernte. Sie muss wohl eingesehen haben, dass es wenig fruchtet, sonst würde sie sich mit zunehmendem Alter nicht so sehr aufs Gebet verlegen. Wie auch immer, ich denke, Gyrid hat ihr beigebracht die Runen zu deuten.«
»Gyrid?«, fragte Agnes verwundert.
»Kein Name, den du dir merken musst«, sagte die Gräfin schnell. »Sie hat nie wieder gewagt, mir zu nahe zu kommen, und hat den Hof damals alsbald verlassen. Gewiss ist sie seit vielen Jahren tot …«
Sie brach ab und schwieg, schabte jedoch weiter sorgfältig die Schriftzeichen vom Pergament. Enttäuscht musste Agnes zusehen, wie Rune um Rune verschwand. Sie wagte kein weiteres Mal, die Gräfin aufzuhalten, und auch nicht, erneut nach dem zweiten Geheimnis zu fragen. Plötzlich war sie sich sicher, dass sie es nie erfahren würde. Zu tief war es im Herzen der Gräfin verborgen, und es war viel zu gefährlich, bis zu dessen dunklem Grund zu tauchen, vor allem für ein Mädchen wie sie, weder lebenserfahren noch kühn genug.
Scharfsinnig jedoch war sie. Warum sonst kam ihr jäh eine Idee, wie sie aus ihrem Wissen, obwohl dieses nur bruchstückhaft war, Gewinn schlagen könnte.
Als sämtliche Runen vernichtet waren, sah die Gräfin sie wieder streng an. »Ich werde zusehen, dass mir weder Bruder Ouen noch Bruder Remi jemals wieder zu nahe kommen, und was immer sie in ihren Klöstern in Umlauf bringen, man wird es für ein Gerücht halten, über das sich zu klatschen lohnt, aber nicht, künftige Entscheidungen darauf zu bauen. Nie dürfen von unserer Seite jedoch diese Gerüchte Nahrung erhalten. Du darfst mit niemandem darüber reden.«
Agnes atmete tief durch. Die Angst vor der Gräfin, deren Entschlossenheit Bruder Remi und Bruder Ouen bald am eigenen Leib erfahren würden, war riesig, doch erdrücken lassen wollte sie sich davon nicht.
»Ich werde schweigen«, erklärte sie. Als die Gräfin sich schon erleichtert abwenden
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