Meisterin der Runen
Agnarr getötet, sondern Gunnora hat es getan«, sagte sie leise.
Arvids Augen weiteten sich, und erstmals wich sein Blick dem ihren nicht aus. »Du hast die Tat auf dich genommen?«
»Gunnora hätte ihn ohne meine Hilfe nicht töten können, so viel steht fest, aber ja … ich habe gelogen. Arfast kennt die Wahrheit und Seinfredas Mann Samo. Aber Richard haben wir sie wohlweislich verschwiegen.«
Arvid nickte, und sie war dankbar, dass sie ihm ihre Entscheidung nicht erklären musste. Keiner kannte die Lage im Land so gut wie er. Keiner wusste besser, dass Gunnora als die große Versöhnerin galt, die von den Dänen für eine der Ihren gehalten wurde. Nie durfte bekannt werden, dass sie einen ihrer Anführer getötet hatte, ganz gleich, was dieser verbrochen haben mochte.
»Warum?«, fragte er schlicht.
»Warum sie ihn getötet hat?« Wieder brach sie ihr Versprechen. »Weil er ihre Eltern getötet hat. Und … und weil er sie geschändet hat.«
Er sog den Atem ein, dachte nach, schien zu berechnen, wann Gunnora fort von Rouen gewesen war und wann der kleine Richard geboren worden war.
»Sie hat deiner Mutter gesagt, dass der Kleine zweifellos Richards Sohn ist!«, rief er.
Alruna hielt seinem Blick stand. »Ja«, sagte sie gedehnt, »ja, das hat sie gesagt.«
Arvid weitete die Augen. »Es war eine dreiste Lüge?«, fragte er bestürzt.
»Vielleicht eine Lüge … vielleicht einfach nur Ausdruck von Hoffnung. Gewiss wünscht sie sich von Herzen, dass der Kleine Richards Sohn ist. Doch mit letzter Sicherheit beschwören kann sie es nicht, und mit dieser Ungewissheit wird sie den Rest ihrer Tage leben müssen.«
Schweigen senkte sich über sie.
»Warum?«, frage Arvid schließlich wieder.
Da erst begriff sie, dass er gar nicht hatte wissen wollen, warum Gunnora Agnarr getötet hatte. Sondern vielmehr, warum sie ihr geholfen hatte. Und warum sie ein Geheimnis hütete, das, würde es aufgedeckt, Richard und Gunnora auf ewig entzweien könnte, anstatt Gunnora ganz offen zu bezichtigen, Mathilda belogen zu haben.
Alruna suchte lange nach einer passenden Antwort. Viele Worte kamen ihr in den Sinn, doch keines hatte Gewicht.
»Ich werde Arfast heiraten«, erklärte sie schließlich schlicht.
Das Lächeln, das nun auf Arvids Lippen erschien, war freudig, und kurz schien er von aller Sorge befreit. »Ich habe es seit Langem so sehr gehofft!«, rief er.
»Wisse, Vater, das unschuldige Mädchen, das du einst in mir sahst, bin ich nicht mehr und kann ich nie wieder werden, und wenn du mich dafür verachtest, kann ich es nicht ändern. Aber du hast selbst gesagt, dass du dein Leben lang gegen das Dunkle, Böse, Rohe angekämpft hast. Warum soll ich es nicht auch können? Ich bin und bleibe Thures Kindeskind, aber ich bin es eben nicht nur. Ich bin die Frau, die Richard vergebens liebte, aber nicht nur. Ich bin die Frau, die fast ein unschuldiges Kind getötet hätte, aber nicht nur.«
Arvid schwieg erneut eine Weile, ehe er die Arme ausbreitete und sie an sich zog. »Du willst, dass Richard glücklich ist. Deshalb dein Schweigen und deine Lügen.«
Sie erfreute sich an seiner Umarmung, löste sich schließlich dennoch davon.
»Ja«, sagte sie, »und überdies will ich selbst glücklich sein. Ich will nichts mehr vermissen müssen, nichts mehr versäumen, mich nicht mehr vergebens nach etwas sehnen. Als ich Agnarr sterben sah, begriff ich, dass es keinen halben Tod gibt. Und deswegen sollte auch das Leben, das davor kommt, kein halbes sein, sondern ein ganzes.«
Viele Wochen waren vergangen, und das Leben folgte wieder einem gemächlichen Takt. Gunnoras innere Unruhe hatte sich jedoch nicht gelegt. Tagsüber betäubte sie sich, indem sie niemals still stand, gewissenhaft die Hofhaltung kontrollierte, sich an ihrem kleinen Sohn erfreute oder Zeit mit Richard verbrachte, doch nachts holte sie die Vergangenheit ein. Sie hatte geglaubt, damit leben zu können, dass Richard womöglich Agnarrs Sohn war, war sich sicher gewesen, dass der Tote sie nicht in ihren Träumen verfolgen würde und außerdem überzeugt, dass Alruna ihr Geheimnis nie verraten würde.
Doch gerade weil jene eisern schwieg, Richard nie wieder auf die Ereignisse zu sprechen kam und Arvid ihr versichert hatte, die dänischen Aufständischen wüssten nichts von ihrer Tat, seine Männer hielten Agnarr vielmehr für einen Feigling und Verräter, der in den Norden geflohen war, verfolgten sie ihre Taten.
Und wenn es doch jemand erfuhr? Wenn ihr
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