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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Kapelle auf Arvid. In den frühen Morgenstunden zog er sich stets dorthin zurück.
    »Hast du für mich gebetet?«, setzte sie grußlos an, sobald er das Gotteshaus verlassen hatte. »Oder denkst du, dass sich zwar Graf Richard meiner gnädig erweisen kann, aber nicht Gott der Allmächtige … und du schon gar nicht?«
    Sein Blick war müde, seine Haut grau, das Entsetzen in seinen Zügen aber höchst lebendig. »Lieber Himmel! Was denkst du nur von mir?«, rief er.
    »Du meidest mich beharrlich. Was soll ich denn anderes denken, als dass du mir nicht vergeben kannst?«
    Er seufzte. »Ich weiß doch nicht einmal, ob ich mir selbst vergeben kann«, bekannte er nach langem Zögern.
    »Woran gibst du dir denn die Schuld?«, fragte sie verwundert. Gegen Anklagen hatte sie sich gewappnet, nicht gegen die Zerknirschung, die in seinem Gesicht stand.
    Hastig nickte er ihr zu, auf dass sie ihm von der Kapelle weg folgte. Was er ihr zu sagen hatte, brachte er offenbar nicht in der Nähe eines heiligen Orts über die Lippen. Im Schatten der Mauer angekommen, zögerte er erneut lange. Seine Kiefer mahlten, und es schien ihm regelrecht Schmerzen zu bereiten, endlich zu sprechen.
    »Mein Vater hieß Thure.«
    Wieder hatte sie vieles erwartet, Vorwürfe und Selbstbezichtigungen, aber nicht das. Den Namen hatte sie irgendwann einmal gehört, ihm jedoch kein Gewicht zugesprochen; er gehörte zu den dunklen Mären aus Kindertagen, verhieß Grusel, aber keine Angst, die im echten Leben Bestand hatte. Sie wusste nicht, was ihr Großvater, ganz gleich wie er hieß, mit ihr zu tun hatte und was mit dem Schmerz, der sich so deutlich auf dem Gesicht ihres Vaters abzeichnete.
    »Mein Vater hieß Thure«, wiederholte er, flüsternd nun. Sie musste sich nahe zu ihm beugen, um ihn zu verstehen. »Er war ein Nordmann … brutal, skrupellos, gierig. Er liebte das Chaos, er liebte die Gewalt. Ich weiß nicht viel von ihm, nicht, wie er aussah, nicht, wie seine Stimme klang. Aber ich weiß, dass er viel gelacht hat, auch in der Stunde, als er meine Mutter mit Gewalt nahm, sie schwängerte und sie hinterher blutend liegen ließ.«
    Er starrte auf den Boden, wühlte die lehmige Erde auf, als wäre der Schmutz, der von der Seele troff, leichter zu ertragen, wenn auch die Füße darin gruben.
    »Er ist tot, lange Jahre tot … er starb am Tag meiner Geburt. Doch in mir war er lange Zeit lebendig. Ich fühlte sie so oft, die Gier nach Zerstörung, die Lust, jemanden zu schlagen, bis Blut floss, Steine zu schmeißen, bis alles zertrümmert war. Mein ganzes Leben habe ich vor diesen Gefühlen Angst gehabt und dagegen angekämpft.«
    »Und gewiss mit Erfolg!«, rief Alruna. »Vater, du bist ein angesehener Mann. Nie habe ich aus deinem Mund ein böses Wort gehört, nie erlebt, dass du respektlos anderen gegenüber warst, nie vernommen, dass du die Fassung verloren, zu viel getrunken oder zu lange gefeiert hättest. Wer von dir spricht, tut es voller Ehrfurcht und bekräftigt mit jedem Wort, welch ehrenwerter Mann du bist.«
    Seine Lippen verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln. »In Gegenwart deiner Mutter war es so leicht, das Feuer zu löschen, das immer wieder in mir brannte … und vor allem in deiner. Du bist … warst mein kleines Mädchen, hübsch, unschuldig, wissbegierig. Du warst meine Tochter, oder vielmehr die Tochter des Mannes, der ich sein wollte, aber ganz gewiss nicht Thures Enkelkind.«
    Endlich begriff Alruna, warum er zu dieser langen Rede angesetzt hatte und warum sein Blick ihrem immer noch auswich.
    »Doch dann habe ich versucht, den kleinen Richard zu töten«, murmelte sie. »Und wenn du mich seitdem ansiehst, witterst du hinter meinen Zügen Thures Fratze.«
    Er hob hilflos die Hand. »Es gibt so viele Menschen wie mich – Kinder von Christen und Heiden, die zeit ihres Lebens darum kämpfen, beider Erbe zu versöhnen, das Gute überleben zu lassen und das Schlechte zu töten. Ich dachte, ja, ich hoffte, du hättest es leichter und müsstest nicht andauernd mit dem Dunklen, Gemeinen, Gewalttätigen ringen.« Er seufzte. »Ich habe gehört, dass du selbst diesen Agnarr getötet hast, und ich weiß, es gab allen Grund dazu. Doch wenn ich mir vorstelle, wie du mit einem Messer auf einen rohen Mann losgegangen bist, wie du …«
    Er brach ab.
    Alruna schwieg lange, dachte an das Versprechen, das sie Gunnora gegeben hatte, aber dachte auch, dass die Liebe ihres Vaters es wert war, es ein einziges Mal zu brechen.
    »Nicht ich habe

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