Meisterin der Runen
reglos stehen, dann ging er hinaus, wusch sich endlich das Blut ab, wischte sich auch den Schweiß von der Stirn. Blicke richteten sich fragend auf ihn, er missachtete sie. Nur den eigenen Augen konnte er nicht ausweichen. Aus dem Holztrog, vor dem er hockte, starrten sie ihn an, bestürzt, anklagend, ratlos. Es schienen nicht seine Augen zu sein, sondern die eines Fremden.
Vatermörder, sagte sein Blick.
Er schloss die Augen.
Sieger, dachte er trotzig. Ich habe ihn besiegt.
Nur die schwarze Dänin hatte er nicht besiegt, sie war immer noch auf der Flucht. Er öffnete die Augen wieder. Sein Blick war nicht länger anklagend, sondern irrte in die Ferne … Jahre zurück, als er noch ein junger Mann und dem Vater restlos ergeben war. Mit dem dänischen Heer unter der Führung von Prinz Harald Blauzahn waren sie im Jahr 945 ins Land gekommen, das Richards Herrschaft retten und den fränkischen König vertreiben sollte, der in die Normandie eingefallen war. Tatsächlich war das gelungen, doch Richards Dank war ausgeblieben, die heidnischen Dänen waren misstrauisch betrachtet und von den wichtigen Hofämtern ferngehalten worden.
Agnarr versenkte seine Hände in das Wasser. Er konnte sein Gesicht nicht länger sehen. Nun, er wollte sich gar nicht betrachten, wollte auch nicht an Richard denken, an den Hass auf ihn, der ihn mit seinem Vater verbunden hatte. Er dachte erneut an die schwarze Dänin … und an Berit, an die diese ihn erinnert hatte. Nicht, dass sie sich glichen. Berit hatte rote Haare und grüne Augen gehabt, große Brüste, aber magere Schultern. Und Berit hatte er auch nicht verfolgt, um sie zu töten, vielmehr hatte er um sie geworben, damit sie sein Weib werde. Erst als sie ihn ausgeschlagen hatte, war seine Wut erwacht.
Nächtens überfiel er ihr Dorf und raubte sie. Ehe er sie gewaltsam zu seinem Weib machen konnte, ließ sie sich auf ein Schwert fallen und verblutete. Kaltes Eisen war ihr lieber als sein lüsternes Fleisch.
Jahrelang hatte er nicht mehr an Berit gedacht, jetzt fiel sie ihm wieder ein, ihre Schönheit, ihr Stolz, ihre Entschlossenheit, vor allem aber seine Ohnmacht, weil es ihr gelungen war, ihm zu entgehen.
Er zog seine Hände aus dem Wasser, die Oberfläche war wieder glatt, und auch sein Geist nicht länger aufgewühlt.
Gewiss, Berit mochte ihm zuvorgekommen sein, aber dem Vater hatte er den Tod gebracht, ohne dass dieser ihn hatte kommen sehen, und auch die schwarze Dänin, das schwor er bei allen Göttern, würde sterben, wenn er, nicht wenn sie es wollte.
Ihre Schritte wurden langsamer, ihr Schweigen immer lähmender. Seinfreda lächelte Samo, den Mann, der sie gerettet hatte, fortwährend an, scheu zwar, aber freundlich. Er erwiderte ihr Lächeln nicht, es schien ihn jedoch zu rühren, denn er gab ihnen Felle, damit sie sich sich wärmten. Offenbar hatte er sie eigenhändig von erlegten Tieren abgezogen und handelte damit, denn er trug eine Menge davon in einem Lederbeutel mit sich: Sie reichten für alle vier Schwestern.
Gunnora wurde trotz der Felle nicht warm, und sie hieß Seinfredas Lächeln nicht gut. Wie konnte die Schwester lächeln, obwohl ihre Eltern tot und sie im fremden Land allein waren? Wie konnte sie lächeln, obwohl sie von diesem Mann nichts wusste?
Nun gut, sie kannten seinen Namen, und im Augenblick verhieß er Schutz und Hilfe. Dennoch hoffte Gunnora, dass sie hinter dem Wald auf ein Dorf stießen und dass darin andere Menschen wohnten. Nicht, dass sie ihnen mehr vertrauen würden – es waren Christen wie der Mörder der Eltern, aber dann wären sie zumindest nicht länger von der Gunst eines Einzelnen abhängig, und Seinfreda würde ihn nicht mehr so verbissen anlächeln.
Die beiden jüngeren Schwestern lächelten nicht. Wevia weinte lautlos mit vielen Tränen. Gunnora strich ihr tröstend über den Rücken.
»Es wird doch alles gut«, murmelte sie.
Sie glaubte nicht daran, und Wevia auch nicht. »Sie ist verloren!«, rief sie verzweifelt.
»Was?«, fragte Gunnora verständnislos.
»Mutters schöne Kette …«
Gunnora spürte mit einem Mal, dass ihre Gefühle doch nicht tot waren. Wut packte sie. Wie konnte die Kleine ausgerechnet an Schmuck denken, nachdem ihre Eltern wie Tiere abgeschlachtet worden waren! Aber dann begriff sie, dass es leichter war, von verlorenen Perlen zu sprechen und darüber zu weinen als von toten Eltern.
Duvelina wurde immer schwerer auf ihrem Arm. Sie und Seinfreda trugen sie nun abwechselnd, bis sie einschlief,
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