Meisterin der Runen
Tod ihrer Großmutter denken und dass damals die Mutter selbst den Runenstein beschrieben hatte. Gunhild errichtet diesen Stein zum Andenken an Guorun, ihre Mutter.
Gunnora hatte keine Ahnung, wie man Runen in Stein ritzte, und zum ersten Mal weinte sie. So viel wusste sie nicht, so vieles müsste sie noch lernen, so vieles konnte Gunhild sie niemals mehr lehren!
Sie wischte sich hastig die Tränen ab. Es waren ja doch nicht genug, ihrer Trauer Herr zu werden, nicht genug, um den blutigen Strand wieder reinzuwaschen, nicht genug, um die Toten ins Meer zu spülen, sodass sie nicht von Geiern und der Witterung zerfressen wurden, sondern im Wasser Richtung Heimat trieben.
Sie ritzte wieder etwas in die Rinde des Baumes, dieses Mal keine Rune, sondern ein Schiffchen. Die Vornehmen ihres Volkes wurden in Schiffen bestattet und vergraben, und die, die sich das nicht leisten konnten, bauten aus Holz und Steinen Schiffe, die sie auf die Gräber stellten. Wir sind schließlich ein Volk, das auf dem Wasser ebenso zu Hause ist wie auf der Erde, hatte ihr Vater oft gesagt, obwohl er selbst am liebsten geritten war.
Nun, sie hatte kein Schiff, um heimzukehren, und wenn sie eines hätte, daheim doch keine Familie mehr, die auf sie warten würde.
Gunnora spürte neue Tränen hochsteigen. Sie schluckte sie schnell hinunter, erhob sich, ging tief in den Wald hinein. In den ersten Tagen hatte sie Angst davor gehabt, dass der Christ ihnen gefolgt war, doch niemand war bei der Hütte aufgetaucht, und Samo meinte, dass man in der Gegend nur selten Menschen anträfe. Die Bauern der Umgebung hatten zwar das Recht, trockenes Reisig für ihre Herde aus dem Wald zu holen und ihre Schweine mit Wurzeln und Eicheln zu füttern, aber sie wagten sich selten so tief ins Dickicht. Der Grundherr wiederum jagte manchmal, aber erst im Herbst.
Keine Schritte erklangen also, kein fremder Atem, keine Worte, nur die Geräusche des Waldes, die Stimmen der Tiere … oder der Geister.
Wanderte irgendwo der Geist ihrer Eltern umher?
»Was soll ich tun, Mutter, was soll ich tun, Vater?«
Die Stimmen gaben ihr keine Antwort. Vielleicht flogen Walrams und Gunhilds Geist über die Baumwipfel, blickten zwar hinab, aber konnten sie im Unterholz nicht sehen.
Wieder musste sie an das Begräbnis der Großmutter denken. Man hatte die Tote damals nicht durch die Tür aus dem Langhaus gebracht, sondern ein Loch in die Wand geschlagen und es hinterher wieder verschlossen. Obwohl Gunhild ihre Mutter geliebt hatte, hatte sie Angst vor deren Wiederkehr gehabt, und auf diese Weise konnte sie sicher sein, dass die Tote nicht auf demselben Weg zurückkehren und Unruhe stiften würde. Gunnora teilte diese Angst nicht. Ein kopfloser Vater und eine blutüberströmte Mutter wären ihr lieber gewesen als die Einsamkeit.
Immer unerträglicher wurde diese nun, und sie entschloss sich, wieder zurückzukehren. Zuerst orientierte sie sich an den eigenen Spuren, die sie in der feuchten Erde hinterlassen hatte, dann folgte sie dem Geschrei.
Es war Hilde, Samos Mutter, die so schrie, wie immer unangenehm schrill und zu durchdringend, als dass man die Ohren verschließen könnte. Gunnora trat näher und erkannte, dass das Geschrei auch Seinfreda und Samo herbeigelockt hatte. Hilde plärrte Samo an, und kurz vermeinte Gunnora, dass sie ihn maßregelte, doch kaum hatte die Alte sie selbst erblickt, ging sie auf sie los.
»Fort! Fort mit dir! Du heidnische Hexe! Und du …«, geifernd wandte sie sich an Samo, »… du sorgst dafür, dass sie unser Heim nicht mehr betritt.«
Gunnora begriff nicht, was die andere umtrieb, sah jedoch Entsetzen in Seinfredas Blick und folgte ihm. Ihre Schwester hatte die Runen entdeckt, die sie in den Baum geritzt hatte – und Hilde offenbar auch.
»Das ist ein böser Zauber!«, rief Hilde anklagend. »Wir alle werden zugrunde gehen! Verflucht hast du uns, allesamt verflucht!«
»Du dummes Weib!«, brach es aus Gunnora hervor. »Diese Runen ehren meine toten Eltern.«
»Von euch kommt nichts Gutes, das wusste ich von Anfang an. Du bist eine Zauberin, und deine kleine Schwester ist eine Diebin. Sie hat mir meine Fibel gestohlen.«
Seinfreda fand ihre Fassung wieder, ihr Lächeln jedoch nicht. Mit zitternden Lippen sank sie vor Hilde auf die Knie.
»Ich bitte dich, sei uns gnädig. Ich werde noch mehr arbeiten, ich helfe dir, wo ich kann. Nur lass uns bleiben! Sag mir, was ich tun kann, damit du meinen Schwestern verzeihst!«
Gunnora presste die
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