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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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waren irgendwann aber beide zu erschöpft. Als Samo ihnen anbot, das Mädchen an ihrer statt zu tragen, zögerte Gunnora. Sie wollte ihm trotz der schmerzenden Arme das Kind nicht anvertrauen.
    »Ich tue Kindern nichts zuleide«, erklärte Samo mürrisch.
    Schweren Herzens überließ sie ihm Duvelina. Die Kleine erwachte davon und schrie auf.
    »Ganz ruhig«, murmelte Gunnora und streichelte über ihren Kopf. Fortan wich sie Samo nicht von der Seite und versuchte Duvelina zu beschwichtigen, indem sie ihr Geschichten erzählte wie früher der Vater. Jetzt musste sie das für ihn tun, jetzt lag es an ihr, für ihre Schwestern zu sorgen, jetzt gab es nur mehr sie, um die Weisheit der Runen am Leben zu erhalten …
    »Gott Thor«, erzählte sie, »hat einen Streitwagen, und dieser wird von zwei Ziegenböcken gezogen. Als er einmal auf Reisen war und ihm der Proviant ausging, wurde er hungrig, schlachtete die Ziegen und briet sie über dem Feuer. Später erweckte er sie wieder zum Leben, auf dass sie erneut seinen Wagen zögen, doch eine der Ziegen hinkte, weil er in seiner Gier einen Knochen durchbissen hatte.«
    Duvelina lachte, Seinfredas Lächeln aber schwand. Die beiden Schwestern tauschten einen Blick.
    Wann werden wir jemals wieder Fleisch essen?, schien Seinfreda zu fragen.
    Und wann werden wir jemals wieder Hunger haben?, gab Gunnora stumm zurück. Und wenn der gebrochene Knochen einer Ziege nicht heilen kann, wie dann ein zutiefst verletztes Herz?
    Sie musste an eine andere Geschichte denken, an die von Egil, einem großen Magier, der sich manchmal in einen Wolf verwandelte. Er war mächtig und stark, und seine Raubzüge nach England waren siegreich, doch als seine Söhne starben, konnte er nichts mehr essen und trinken und wäre des Hungers gestorben, wenn seine Tochter nicht gewesen wäre. Erst verlangte sie, dass er einen Trauergesang für die toten Brüder verfasste, später ein Gedicht über ihre Heldentaten, und um sich dafür zu stärken, aß und trank er und wurde alt.
    Gunnora ahnte: Auch wenn sie keinen Appetit hatte, würde sie essen und trinken und sich stärken. Nicht um ihrer selbst willen, sondern um für ihre Schwestern zu sorgen und das Andenken ihrer Eltern zu ehren.
    Der Wald fand immer noch kein Ende, weit und breit war kein Dorf zu sehen, doch inmitten von Bäumen plötzlich eine Hütte. Das Dach bestand aus begrünten Torfstücken, die Spalten waren mit Birkenrinde gestopft. Aus Torfziegeln waren auch die Wände, die überdies ein Gerüst aus Flechtwerk stützte.
    »Hier wohne ich«, erklärte Samo.
    Sie waren in einem fremden Land, doch im Inneren der Hütte sah es aus wie in ihrem Zuhause in Dänemark. Gunnora schloss die Augen und sog den vertrauten Geruch nach Torf und Holz, Rauch und Erde ein. Als sie die Augen wieder öffnete musterte sie das schlichte Mobiliar: Ein langer Tisch stand in der Mitte des Raumes, zwei Bänke rechts und links davon. An den Wänden waren viele kleine Haken angebracht, woran Schöpfkellen aus verzinntem Eisen, Schlüssel, Fingerhüte und ein metallenes Klappmesser hingen. Das Dach wurde von Querbalken getragen, die von etlichen Pfeilern gestützt wurden. Einen Vorratsraum oder Winterstall, der sich dem Wohnraum anschloss, sah Gunnora nicht, jedoch im hinteren Teil die Lagerstätte: Strohsäcke auf dem leicht erhöhten Boden. Es waren mehr als einer, was bedeutete, dass Samo hier nicht allein wohnte.
    Noch konnte Gunnora niemanden erkennen, da es zu dunkel war. Es gab keine Fenster, nur winzige Luken, allesamt mit Schweinsblasen bespannt, die Wind und Kälte abhalten sollten. Torfstäbe glühten, aber nicht stark genug, um die Dunkelheit zu erhellen, und das Herdfeuer verbreitete nur ein paar Schritte weit sein heimeliges Licht. Eine Kette hing über diesem Feuer, an der wiederum ein Topf befestigt war. Überdies waren Schüsseln aus Speckstein in die Glut gebettet worden, in denen Essen garte.
    Gunnora wurde übel vor Hunger, aber sie konnte sich nicht überwinden, um Essen zu flehen. Seinfreda hingegen tat es ohne Scheu, sie hängte sich bei Samo ein und schmiegte sich an ihn. Obwohl das Licht so trüb war, erkannte Gunnora, dass Samo vor Verlegenheit glühend rot wurde.
    Gunnora wurde glühend rot vor Zorn, sie zeigte ihn jedoch nicht, ließ sich vielmehr von ihrem Hunger bestechen und machte sich wenig später über den Eintopf her, mit dem Samo aufwartete: Er war mit dicken Bohnen, Kürbis und sogar etwas Fleisch zubereitet worden, Gunnora schmeckte auch

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