Meisterin der Runen
Lippen zusammen. Sie liebte niemanden wie Seinfreda und verachtete in diesem Augenblick doch keine wie sie. Wie konnte sie sich so erniedrigen! Hatte sie vergessen, wer sie war? Aus einfachem Hause zwar, aber keine der Sklaven, die nur die schmutzigsten Arbeiten verrichteten, Torf gruben, Schweine hüteten und das Feld düngten!
Nun gut, das mussten sie auch hier nicht tun, und dennoch … zu betteln und zu flehen konnte nicht grässlicher schmecken, als mit dem Gesicht voran in Kuhmist zu fallen. Als Seinfreda sie obendrein auffordernd anblickte, offenbar von ihr erwartete, dass sie sich ihrer Bitte um Vergebung anschloss, trotzte Gunnora Hildes Blick.
Wenn du die Runen berührst, dann bist du eine tote Frau, dachte sie, Thors Hammer wird dich treffen.
Doch Hilde berührte die Runen nicht, und darum starb sie nicht, sondern keifte weiter, bis Gunnora floh. Die Einsamkeit des Waldes setzte ihr nicht minder zu als vorher, aber nichts war ihr in diesem Moment so unerträglich wie der Anblick der Menschen.
Als sie nach Stunden wieder zurückkehrte, hatte sich Hilde beruhigt. Ob Seinfreda das erreicht oder Samo ein gutes Wort für sie eingelegt hatte, war nicht gewiss, und es war ihr auch gleich.
Seinfreda jedenfalls sah ungewöhnlich ernst drein, packte sie an der Hand und führte sie vom Haus weg.
»So geht es nicht weiter!«, erklärte sie entschlossen.
»Du hast recht, wir müssen fort von hier.«
»Fort?«, rief Seinfreda empört. »Und wohin? Sollen zwei junge Frauen und zwei kleine Mädchen allein im Wald leben? Ohne frische Kleidung, ohne Nahrung, ohne … Zukunft?«
»Die Verwandten unseres Vaters …«
»Wir kennen sie nicht, und deswegen werden wir sie nie finden. Wir müssen bleiben, um zu überleben. Und du musst dich zusammenreißen.«
Gunnora sah ihre Schwester verwundert an und verachtete sie nicht länger. Woher nahm dieses zarte Geschöpf seine Zähigkeit, woher die Entschlossenheit, zumal doch sie, die Älteste, für die Schwestern sorgen musste!
Scham überwältigte sie, und diesen kurzen Augenblick der Stille nutzte Seinfreda, um zu erklären: »Ich werde Samo heiraten.«
Gunnora zuckte zusammen. Ihr Schamgefühl erstarb sofort. »Du wirst was?«, rief sie entsetzt.
Seinfreda schlug den Blick nieder. »Er ist ein guter Mann«, sagte sie leise, »oder zumindest kein schlechter. Und das ist mehr, als ich mir in unserer Lage erhoffen kann: Er sucht seit langem eine Frau, aber hier im Wald findet er natürlich keine.«
»Das hat er dir gesagt?«
»Er redet nicht über solche Dinge.«
»Er redet so gut wie gar nicht, vor allem nicht, wenn es darum geht, seine bösartige Mutter zum Schweigen zu bringen!«, schrie Gunnora.
»Und doch hat er gegen ihren Willen durchgesetzt, dass wir bleiben. Ganz so nutzlos und schwach kann er also nicht sein.«
Ein Schmerz durchfuhr Gunnoras Brust und raubte ihr den Atem. So musste sich Gunhild gefühlt haben, als das Schwert des Christen sie traf – so hilflos, ohnmächtig, so voller Angst und … Wut.
Nicht nur, dass wir alles verloren haben, ging es ihr betroffen durch den Kopf. Überdies entzweien wir uns, sonst würde sie niemals einen fremden Mann vor mir rechtfertigen.
Gunnora zwang die jüngere Schwester, sie anzusehen. »Du musst das nicht tun!«, rief sie eindringlich. »Mir fällt etwas ein, ich werde für uns sorgen. Du willst ihn doch gar nicht heiraten, du glaubst nur, dass du’s musst.«
Seinfreda erwiderte ihren Blick, und Gunnora las gleichen Schmerz darin. Warum nur konnten sie ihn nicht teilen, warum musste ihn jede für sich tragen!
»Nein«, sagte sie heiser, »nein, es gibt keine andere Möglichkeit.«
Gunnoras Mund wurde trocken. Sie wusste: Wenn überhaupt, dann müsste sie dieses Opfer bringen. Aber sie wusste auch, dass Samo sie nicht nehmen würde. Sie hatte in den letzten Wochen nicht geschuftet, nicht gelächelt, sie war in Isas Kälte gefangen und hatte bei den Bäumen Trost gesucht, nicht bei ihren Schwestern.
Sie hielt Seinfreda fest, als die zum Haus zurückkehren wollte, umarmte sie, schmiegte sich an sie. Wie schmal und blass sie war, wie weich und warm der Körper, unmöglich, dass er bald Samo gehören würde! Sie schluchzte auf. So viele Widerworte lagen ihr auf der Zunge, so viele Flüche, so innigliches Flehen, aber sie ahnte, dass kein Wort stark genug war, um gegen Seinfredas Entschlossenheit anzukommen, -und dass keines ihr Scheitern vertuschen konnte, den Schwestern Mutter und Vater zu sein und ihnen
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