Meisterin der Runen
stand für die Natur, aber auch für Besitz und Wohlstand, und dafür, verwurzelt zu sein, ob in einer Familie oder auf dem eigenen Grund und Boden.
Die Ernte, die Astas Mann in diesem Sommer eingebracht hatte, war eigentlich reichlich gewesen – der Grund, warum er ihr überhaupt erlaubt hatte herzukommen. Doch Asta hatte verkündet, dass man nie reich genug sein und nie entschieden und frühzeitig genug Vorsorge treffen könne. Mit Ehrfurcht, aber auch Gier im Blick strich sie über den Talisman, ehe sie wieder den Kopf hob.
»Ich bin allerdings nicht nur deswegen gekommen«, erklärte sie.
»Was willst du noch?«
Gunnora beugte sich vor. Sie saß auf einem Polster aus Hühnerfedern, trug eine schwarze Lammfellmütze und einen Zundergürtel – alles Geschenke der Frauen, die zu ihr in den Wald kamen. In Dänemark trug die Völva, eine Seherin, zwar noch prächtigere Kleidung aus Seide und Katzenfell, aber auch solcherart hob sie sich von der Tracht der Bäuerinnen ab. Sie hatte nie eine Völva persönlich gesehen, die weiseste Frau, der sie je begegnet war, war ihre Mutter gewesen, und Gunhild hatte sich wie die Frau eines Pferdezüchters gekleidet, einfach und robust. Hier jedoch galt es, mit vielen kleinen Details Eindruck auf die Menschen zu machen, und das war ihr, wenn auch nicht mit Seide, so damit gelungen, dass sie Runen auf die Lammfellmütze gestickt hatte. Noch mehr Eindruck als ihre Kopfbedeckung machte es, wenn sie ihre Augen verrollte, bis nur noch das Weiße zu sehen war, sie folglich blind für die Welt wurde und sich ganz der Zwiesprache mit den Göttern anheimgab.
Zumindest vermuteten ihre Gäste, dass sie in jenes Zwischenreich vorstieß, wo Verstand und Gefühl aussetzten, der Mensch seine Geschichte vergaß und zur leeren Schale wurde. In Wahrheit handelte Gunnora nicht ohne Berechnung. Sie hatte weder Kräuter noch Met, um in den Zustand der Besinnungslosigkeit zu verfallen. Den spielte sie nur und hoffte darauf, dass es die Götter ihr nicht übel nehmen würden, setzten sie doch selbst nicht selten auf List und Ränke. Um das Leben im Wald durchzustehen, bedurfte es schließlich des Mutes, des Erfindungsreichtums und manchmal der Skrupellosigkeit, und Gleiches war auch den Frauen zu eigen, die zu ihr kamen, obwohl sie wussten, dass ihre Priester Zauberei verachteten und ihr Gott nichts von Runen hielt.
»Mein Sohn ist krank«, erklärte Asta eben, »gewiss kannst du ihm helfen.«
Gunnora wühlte in ihrem Ledersäckchen. Mehrere Holzstücke befanden sich darin, in die sie Runen geritzt hatte. Eigentlich wäre es besser gewesen, Steine mit den geheimnisvollen Zeichen zu beschreiben, doch sie besaß kein geeignetes Werkzeug dazu. Immerhin hatte sie aus Beeren und Wurzeln verschiedene Farben hergestellt, um die Runen damit nachzuzeichnen und ihre Wirkung zu verstärken.
Mit Absicht ließ sie Asta etwas warten, um sie in Spannung zu versetzen, ehe sie schließlich ein Holzstück hervorzog, in das die Rune Algiz eingeritzt war.
»Das ist eine Heilrune«, erklärte sie, »du musst dieses Holz deinem Sohn unter das Kopfkissen legen, sobald er schläft.«
Asta wagte kaum, es zu berühren. Mehrmals zuckte ihre Hand zurück, als würde sie sich verbrennen. Doch schließlich ließ sie das Holzstück in ihrem eigenen Beutel verschwinden.
»Hab Dank!«, rief sie ein ums andere Mal.
Gunnora konnte sich ein befriedigtes Lächeln nicht verkneifen. Es gefiel ihr, dass sie helfen konnte. Und noch mehr gefiel ihr, dass sich der Glaube an die alten Bräuche hier viel stärker als anfangs erwartet hielt.
Sie hatte die Normandie als ein christliches Land betrachtet, dessen Bewohner ihresgleichen zu töten gedachten, doch sie hatte die Zahl der Menschen unterschätzt, deren Vorfahren aus dem Norden stammten und die trotz aller Anpassung die einstigen Sitten nicht vergaßen.
Nun wandte sich Frida an sie und bekundete einmal mehr, wie eifersüchtig sie auf ihre Schwägerin war, die fröhlicher und schöner war als sie.
»Kennst du einen Schadenszauber?«, fragte sie flüsternd. »Ich möchte so gern, dass sie hässlich ist. Sie soll ihre Zähne verlieren und ihr Haar, und ihr Gesicht soll von Falten zerfurcht werden!«
Gunnora zögerte. In den letzten zwei Jahren, die sie hier im Wald verbracht hatte, hatte sie oft auch die zerstörerische Kraft der Runen genutzt, aber ausschließlich, wenn es galt, Höfe gegen Feuer zu schützen, Händler gegen Räuber und Jäger gegen wilde Tiere. Unschuldige
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