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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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zwischen den Lippen hervor.
    Er sah den Widerspruch in ihren Mienen, doch auszusprechen wagte ihn keiner. Das tat jemand anderes.
    »Das ist es also, was du Kriegern befiehlst?«, ertönte ein Kreischen. »Zu warten? Schneid ihnen doch gleich die Eier ab, und mach sie zu Weibern!«
    Wer so sprach, war selbst ein Weib. Das nämlich, das ihn auf diese Welt geworfen hatte. Er hatte seine Mutter nicht kommen sehen, sie musste sich wohl schon vor geraumer Zeit ins Langhaus geschlichen haben. Ihr gegenüber vermochte er nicht, die Beherrschung zu wahren.
    »Du hast hier nichts zu suchen, Mutter!«
    Aegla trotzte kühn seinem Blick.
    »Sollte es sich nicht langsam lohnen, dass du deinen Vater getötet hast?«, fragte sie heiser.
    Die Worte trafen ihn, bekundeten sie doch, dass ihm seine Mutter die grausame Tat längst verziehen hätte, wenn er denn endlich die Macht in Händen hielte. Doch so zog sie die Rolle der Mahnerin vor, die alle daran erinnerte, was er war. Nicht der neue Graf der Normandie, sondern ein Vatermörder.
    »Wenn du nicht dein Maul hältst, töte ich auch dich.«
    Sie sah ihm fest in die Augen. Sie hatte keine Angst – so wenig wie die schwarze Dänin.
    »Mein Leib ist vertrocknet, mein Haar schlohweiß, mein Buckel gekrümmt, ich bin fast blind. Du musst mir mit etwas anderem drohen als dem Tod.«
    Er fühlte sich einmal mehr von ihr bloßgestellt und überdies auf einen Irrtum hingewiesen, den er erst kürzlich eingesehen hatte – zu denken nämlich, man hätte Macht, wenn man den Tod brachte. Bis jetzt hatte er das angenommen, nicht zuletzt der vielen Menschen wegen, die ihn angefleht hatten, das Schwert nicht gegen sie zu erheben. Aber jene Menschen waren Gewürm. Es zu zertreten, hätte jeder geschafft, der eine Waffe besaß. Es verhieß keinen Sieg, keinen Triumph, keine Genugtuung. Der Wille eines starken Menschen war viel schwerer zu brechen, als es war, einen Schädel entzweizuschlagen, und das hatte er nie gelernt.
    Auch bei Berit hatte er damals den Fehler gemacht, auf seinen so viel stärkeren Körper zu setzen, der sich den ihren schon untertan machen würde, anstatt vorherzusehen, dass sie den ihren lieber selbst hatte meucheln wollen, anstatt sich ihm zu überlassen. Stärker als der Tod war sie solcherart nicht gewesen, aber den Wunsch zu leben, der jedem Wesen innewohnt, ganz gleich wie und unter welchen Qualen, hatte sie zu leugnen gewusst. Auch seiner Mutter schien es wichtiger, ihn zu verspotten, als zu leben.
    »Mich bringst du nicht zum Schweigen.«
    »Verschwinde, ehe du meine Faust spürst«, knurrte er. »So alt kann ein Mensch gar nicht werden, dass Schläge ihm keine Schmerzen bereiten.«
    »Gewiss, aber noch mehr als Schläge schmerzt mich, einen Versager als Sohn zu haben.«
    Herausfordernd starrte sie ihn an. Er hingegen tat, als würde er sie nicht länger bemerken. Jetzt werde ich dich gewiss nicht töten, dachte er. Erst wenn du vor mir im Staub gekrochen bist, mir die Füße geküsst und mir gehuldigt hast, werde ich es tun.
    Bei der schwarzen Dänin, sollte sie ihm jemals in die Hände fallen, würde er es genauso halten.

 
F ÉCAMP
996
    Bruder Remi mochte in einem Kloster fern der Hauptstadt leben, doch wie die Kleriker bei Hof, die um Einfluss und Pfründe wetteiferten, hatte er die wichtigste Lektion gelernt: Die Männer, die sich nicht auf Waffen verlassen konnten, zogen ihre Macht aus der Kunst der Verstellung, des heimlichen Ränkespiels und des Durchschauens.
    Sein Entsetzen, von Agnes ertappt worden zu sein, ließ er sich nicht lange anmerken. Bald schon verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln, und er trat auf sie zu: »Oh, welch hübsches kleines Mädchen. Wir haben uns noch nicht kennengelernt, oder?«
    Sein Lächeln war falsch, die Worte nicht minder. Er war kein Mann, für den es einen Unterschied machte, ob die Menschen – Erwachsene gleich Kindern – schön oder hässlich waren. Und er hatte sie schon einmal gesehen, sogar ihren Namen gehört, aber ihn schlichtweg vergessen, weil sie bedeutungslos war. Zumindest bis jetzt. Jetzt rang er nach Worten, die erklären sollten, warum sie ihn gemeinsam mit Bruder Ouen im Gemach der Gräfin angetroffen hatte.
    Agnes kam ihm zuvor. »Wer ich bin, tut nichts zur Sache«, sagte sie schnell. »Meine Mutter schickt nach Euch … es steht schlecht um den Grafen … sie meint, Ihr wolltet gewiss dabei sein, wenn er stirbt. Ihr solltet Euch eilen, er liegt bereits in den letzten Zügen.«
    Kurz packte sie das

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