Meisterin der Runen
schlechte Gewissen. Gewiss, mit dem Tod war jederzeit zu rechnen, aber in diesem Augenblick nicht mehr als eine Stunde zuvor. Was, wenn die Dämonen, die ungeduldig auf die Seele warteten, das dreiste Spiel, das sie mit ihnen trieb, ahndeten? Was, wenn die Gier, die sie anfachte, sich mit dem Tod des Grafen allein nicht stillen ließ, sondern die Dämonen um jüngere, wankelmütigere Seelen streiten wollten wie die ihre?
Doch als sie sah, dass ihre Lüge fruchtete, dass Remi mit gehetztem Blick an ihr vorbeischritt, ja, überdies Bruder Ouen winkte, ihm zu folgen, konnte sie sich eines Gefühls der Genugtuung nicht erwehren.
Bruder Ouen jedoch, als dickleibiger Mensch von Natur aus träge, zögerte, den schweren Körper zu bewegen, und weigerte sich auch, die Rolle Pergament zurückzulegen, die er eben studiert hatte.
»Kommst du?«, fragte Bruder Remi ungeduldig. »Das … andere muss auf später warten.«
Er zwinkerte ihm zu, ein Zeichen, dass er sich nicht zuletzt zu beeilen hatte, um Agnes’ Misstrauen nicht zu wecken, und schließlich gab Bruder Ouen nach.
Agnes gab sich weiterhin arglos und freundlich und tat so, als würde sie den beiden den Gang entlang folgen. Nach wenigen Schritten blieb sie jedoch abrupt stehen. Sie verließ sich darauf, dass sich keiner der beiden nach ihr umdrehte – und täuschte sich nicht.
Agnes grinste. Manchmal war es ärgerlich, dass man ein Mädchen wie sie nicht ernst nahm – in Stunden wie diesen hingegen nützlich, darauf zu setzen. Einen langen Aufschub hatte sie jedoch wohl nicht bewirkt: Sobald die beiden feststellten, dass der Tod des Herzogs noch auf sich warten ließ, würden sie zurückkehren, und sie keine andere Möglichkeit hätte, sie erneut von hier wegzulotsen.
Hastig eilte sie zurück ins Schlafgemach der Gräfin, und dass sie nun allein hier war, machte die Sache noch aufregender. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und das Blut rauschte in ihren Ohren, als sie sich nun ihrerseits über die Pergamentrollen beugte.
Die Mönche hatten genau gewusst, wonach sie suchten. Sie hingegen hatte keine Ahnung, welcher Natur die geheimnisvollen Schriften waren, die die Macht hatten, die gräfliche Familie ins Verderben zu stürzen und den Lauf der Welt zu ändern. Sie konnte nur darauf hoffen, sie rechtzeitig zu finden und vor den heimtückischen Mönchen zu verstecken. Furcht und Sorge trieben sie – und auch, das konnte sie bei allem Schrecken, den das Geheimnis der Gräfin verhieß, nicht leugnen, Neugier.
Vorsichtig glättete sie ein Stück Pergament und entzifferte die ersten Worte.
IV.
964
Gunnora hörte die beiden Frauen schon von Weitem, denn sie waren nicht mehr die Jüngsten. Jeder ihrer Schritte wurde von einem Ächzen begleitet. Überdies fühlten sie sich im Wald unwohl und versuchten, ihre Angst zu vertreiben, indem sie eifrig miteinander schwatzten. Erst als sie Gunnoras ansichtig wurden, verstummten sie ehrfürchtig.
Sie nickte in die Richtung der einen, Asta mit Namen, dann in die der anderen, die Frida hieß.
Mit gesenktem Blick legten sie die letzten Schritte zurück, die sie noch von ihr trennten. Gunnora ihrerseits rührte sich nicht. Sie empfing sie sitzend unter dem Blätterdach, nicht weit entfernt von jener einfachen Hütte, die sie selbst erbaut hatte – zumindest fast, Samo hatte ihr ein wenig geholfen. Er hatte es getan, weil Seinfreda ihn inständig darum gebeten hatte, und sie hatte es ebenfalls nur um Seinfredas willen zugelassen.
Asta sank vor Gunnora auf den Waldboden, verharrte ein wenig und hob sodann das Bündel, das sie in den Wald geschleppt hatte.
»Ich habe dir Zwiebeln und Lauch mitgebracht«, säuselte sie voller Demut.
Gunnora blickte ausdruckslos. »Hab Dank, das kann man zum Zaubern gut verwenden.«
Insgeheim war sie etwas enttäuscht: Die Bauersfrauen brachten ihr manchmal Kaninchen oder Hühner, mit deren Blut, das man in Kesseln auffing, sich die Zukunft vorhersagen ließ und deren Fleisch sie hinterher braten konnte, um sich endlich mal den Magen vollzuschlagen. Zwiebeln und Lauch ergaben ein ungleich kärglicheres Mahl.
Allerdings, was sie tat, geschah nicht aus Eigennutz. Sie wollte den Göttern huldigen und ihren Willen erkennen, wollte den Eltern nahe sein und Dänemarks Sitten lebendig halten.
Schweigend nahm sie das Gut entgegen und reichte ihrerseits Asta den Talisman, den sie ihr in den letzten Tagen angefertigt hatte: ein Stück Holz an einem Lederband, auf das die Rune Othala geschnitzt war. Sie
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