Meisterin der Runen
mehr Einsamkeit.
Um nicht daran denken zu müssen, öffnete Gunnora den Mund und begann zu sprechen. Anfangs war es merkwürdig gewesen, nur die eigene Stimme zu hören und keine, die ihr antwortete, doch mit der Zeit war es ihr vertraut geworden, sich, wenn auch nicht mit Menschen, so doch mit den unsichtbaren Wesen des Waldes zu unterhalten, den Zwergen und Feen, Elfen und Erdgeistern. Manchmal sprach sie auch mit den toten Eltern oder den Großeltern, die sie zwar kaum gekannt hatte, aber die manch Geschichte aus alten Zeiten weitergegeben hatten, so jene von einem Vorfahren, der, auf dass sein Schiff schneller segle, einen Sklaven getötet und daruntergelegt hatte, ehe man es ins Wasser rollte. Als Kind war ihr diese Geschichte grausam erschienen, jetzt fragte sie sich oft, welches Opfer sie bringen würde, um nicht mehr allein zu sein.
»Ich lebe zwei Jahre allein im Wald«, murmelte sie in die Stille, um trotzig hinzuzufügen, »doch zumindest muss ich nicht mehr so darben wie in der ersten Zeit.«
Anfangs war sie von den Menschen, die im Wald Holz, Beeren oder Pilze sammelten, misstrauisch beobachtet worden, und auch sie selbst hatte Angst vor ihnen gehabt, erwartete sie doch, dass sie sich als ähnlich feindselig und bösartig verhielten wie Hilde oder gar bestialisch wie der Christ. Doch mit der Zeit hatte sie ihrem Tuscheln entnommen, dass manche Geschichte über sie im Umlauf war. Die einen, die sich dem christlichen Gott ganz und gar unterworfen hatten, nannten sie eine Hexe, die anderen hingegen, die noch der dänischen Sprache mächtig waren, ein Sprachrohr der Götter, eine verwunschene Fee oder eine weise Seherin.
Zunächst war es eine Mutprobe für besonders draufgängerische Kinder gewesen, ihr so nahe wie möglich zu kommen. Die Eltern schimpften später mit ihnen, aber da sie die Kinder anlächelte, anstatt sie zu verfluchen, kamen sie schließlich selbst, fragten, ob sie den besten Tag der Ernte benennen könne und was das Schicksal für sie bereithielt, wie sich die Götter gnädig stimmen ließen und ob sie bereit war, ihnen Opfer darzubringen, indem sie Tiere tötete, an Holzgestelle hängte, das Blut in Schüsseln auffing und daraus las. Immer mehr kamen, brachten die ersten Zähne ihrer Kinder, auf dass sie einen Segen darüber sprach, oder ließen sich Runen schnitzen, um Schaden abzuwehren, gesund zu werden und eine gute Ernte einzufahren.
Anfangs war sich Gunnora oft wie eine Betrügerin vorgekommen, wenn sie die Menschen hoheitsvoll und unnahbar empfing und mit Selbstverständlichkeit Riten durchführte, derer sie selbst nur selten Zeuge geworden war, die folglich zusammengestückeltes Werk aus vager Erinnerung, eigenmächtigem Handeln und blühender Fantasie waren. Doch mit der Zeit fand sie Gefallen an ihrer Rolle – und an der Gesellschaft, die sie dank ihrer bekam. Auch wenn sie sich meist verschlossen gab, fragte sie die Frauen doch aus, erfuhr von ihren Familien, den Schicksalsschlägen und ihren Hoffnungen.
»Ein gutes, glückliches Leben führe ich nicht«, sagte sie, »aber doch ein erträgliches.«
Fortan schweigend schnitzte sie die Rune fertig und wandte sich ihrer Behausung zu, um sich dort die Überbleibsel ihres Mahls einzuverleiben, doch ehe sie es erreichte, ertönte erneut ein Rascheln. Ihre Sinne waren so geschult, dass sie mühelos die Laute der Tiere von den Schritten und Stimmen der Menschen unterscheiden konnte, desgleichen erkannte sie schnell, ob der, der sich ihr näherte, ihr gefährlich werden könnte oder nicht.
Sie lauschte nur kurz, dann entspannte sie sich. Von allen Abwechslungen war ihr diese am liebsten.
Gunnora stürzte auf Seinfreda zu und ergriff ihre Hände – rau vom vielen Arbeiten, aber dennoch zart. Ihre Haut schien durchscheinend zu sein, unter den Augen schimmerten blaue Ringe, und sie war derart abgemagert, dass man noch mehr als früher fürchten musste, ein einziger scharfer Luftzug würde sie umwehen.
So sehr sich Gunnora in respekteinflößender Zurückhaltung geübt hatte – sobald sie Seinfreda sah, konnte sie weder schweigen noch ihre Gefühle im Zaum halten. Sorge war stets das Erste, was in ihr aufloderte, Wut das, was sogleich folgte.
»Hilde lässt dich schuften, aber liegt selbst auf der faulen Haut, nicht wahr? Und Samo sieht zu und greift nicht ein, weil er Angst hat, sie zu vergrämen. Seit Langem lebt er in einem Wald voller gerader, hochgewachsener Bäume und ist selbst doch das krummste Wesen, das ich je
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