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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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verfasste – sie würde seine Taten und die seiner Vorfahren lebendig halten, auf dass seine Nachkommen ihn dafür ehrten. Gleiche Aufgabe kam offenbar auch diesen Schriften zu: zu verhindern, dass die Werke der Gräfin dem Vergessen anheimfielen. Sie klangen weder geheimnisvoll noch gefährlich. Übersah sie etwas? Galt es zwischen den Zeilen etwas zu erahnen, dessen bedrohliche Wirkung sich ihr verschloss?
    Agnes las die Sätze noch einmal, aber wurde nicht schlau aus ihnen. Von den Geburten ihrer Kinder war die Rede, von ihren Schenkungen an Klöster und nicht zuletzt davon, dass die Gräfin den Grundstein für den Wiederaufbau der Kirche von Coutances gestiftet hatte.
    Agnes hatte irgendwann einmal davon gehört: Coutances war eine Stadt im Westen, mehrere Tagesreisen von Rouen entfernt. Dort eine Kirche zu bauen, hatte ihr Großvater ihr einmal erklärt, war nicht nur Beweis von Frömmigkeit, sondern Ausdruck von Machtgebaren, sicherte man sich auf diese Weise doch Einfluss in dem Gebiet.
    Seufzend griff Agnes nach einer neuen Rolle Pergament, las sie wieder mit Mühen – und blieb enttäuscht. Auch das konnten unmöglich die Schriften sein, nach denen Bruder Remi und Bruder Ouen so ungeduldig gesucht hatten. Erneut war nicht von Geheimnissen, die die Normandie bedrohten, sondern von den Großtaten der Gräfin die Rede – unter anderem, dass sie die Freilassung von mehreren Sklaven erwirkt hatte, und das war nichts, wovon Agnes nicht ebenfalls schon einmal gehört hatte.
    Allseits bekannt war die Geschichte eines gewissen Moriuht, die Warner von Rouen, ein Geschichtenerzähler, so wunderbar ausschmücken konnte: Dessen Frau war von Nordmännern entführt und als Sklavin verkauft worden, und Moriuht lag daraufhin Tag und Nacht wach, weil ihn die Sehnsucht nach dem Weibe nicht schlafen ließ.
    Die Vorstellung, nicht zu schlafen, hatte Agnes tief bewegt. Wenn sie müde war, gab es nichts, was sie wach halten konnte, und sie fragte sich, wie groß eine Leidenschaft sein musste, dass sie der Erschöpfung trotzte, und ob sie dergleichen je erleben würde.
    Noch faszinierender war der Fortgang der Geschichte: Von Sehnsucht und Trauer gefangen, lag Moriuht nicht nur wach, er aß auch kaum noch etwas und legte überdies die Kleidung ab. Nur sein Geschlecht bedeckte er mit dünner Tierhaut. Doch wenn er sich bückte, so hieß es, war er derart nackt, dass eine Katze in sein Gesäß kriechen und sich dort für eine Weile verstecken konnte.
    Agnes hatte sich oft gefragt, ob diese Katze schnurren würde oder Moriuht mit ihren Krallen verletzen. Die Katzen, die am Hofe Mäuse jagten, hatten schließlich sehr scharfe Krallen, Agnes hatte sie beim Versuch, sie zu streicheln, schon zu spüren bekommen.
    Nun, noch schlimmer als alles, was Katzen ihm zufügen konnten, war Moriuhts Schmerz um seine Frau. Er wandte sich, nackt wie er war, an die Gräfin, und die stellte sich seiner Blöße zwar gegenüber blind, unterstützte ihn aber bei der Suche nach ihr. Schließlich fand er seine geliebte Glicerium, und das just in dem Moment, da sie die Tochter nährte, die sie ihm in der Gefangenschaft geboren hatte. An ihrem Gesicht hätte er sie nicht erkannt, an den Brüsten schon.
    Dieser Teil der Geschichte hatte Agnes regelrecht Schauder über den Rücken gejagt. Eigentlich war es anzüglich, von Brüsten zu reden, vor allem Mönche taten es so gut wie nie. Aber in jenem Fall sorgten die einzigartigen Brüste für die gottgewollte Wiedervereinigung von Mann und Frau, weswegen dieses Detail der Geschichte nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden konnte.
    Agnes vertiefte sich weiter in die Pergamentrollen. Von Brüsten war hier nicht die Rede, jedoch von verschiedenen Sühneleistungen. Für jede Sünde, das hatte man ihr von klein auf beigebracht, galt es, Buße zu tun, indem man fastete oder wachte oder Messen feierte. Und wer viel Geld besaß wie die Gräfin, konnte dieses verschenken, um sich von der Schuld freizukaufen. Hier nun wurden große Summen genannt, und das hatte wohl nichts anderes zu bedeuten, als dass die Gräfin große Sünden abzugelten hatte.
    Agnes war verwirrt. Wie war das möglich? Die Gräfin galt doch als tugendhafte Frau, nicht als Sünderin, die von der Schwere ihrer Schuld erdrückt wurde und sich mit allem, was sie hatte, dagegenstemmen musste!
    Das Gefühl der Enttäuschung wich der Ahnung, dem Geheimnis doch wieder näherzukommen. Als sie die nächste Rolle studierte, schlug ihr das Herz bis zum Hals.

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