Meisterin der Runen
sie bloß dem Rauschen des eigenen Blutes, und das Lied, das es sang, war kein fröhliches.
Keinen Schritt weitergekommen bist du die letzten Jahre, im Kreis vielmehr gelaufen, um jetzt wieder am Anfang zu stehen. Du hast kein Heim, keinen Besitz, keine Sippe, die dich schützt. Auf das Wohlwollen eines fränkischen Waldhüters bist du angewiesen, der einst nur einfältig war, jetzt obendrein hasserfüllt.
Sie löste die Hände von den Ohren. Vielleicht war es doch erträglicher, einem Gemetzel zu lauschen, als der quälenden Stimme in ihrem Inneren.
Aber es gab gar kein Gemetzel und kein Blutvergießen, nur ruhiges Gemurmel war zu hören. Als es verstummte, folgte das Wiehern des Pferdes und wieder Hufgetrappel, doch beides wurde leiser. Wie hatte Samo den Christen nur so schnell abgewimmelt?
Gunnora konnte es kaum fassen, als Samo tatsächlich wenig später seinen Kopf ins Grubenhaus steckte. »Komm raus, die Luft ist rein!«
Gunnora verkrampfte sich. »Nie und nimmer! Dieser Mann gibt nicht so schnell auf, gewiss kehrt er gleich zurück.«
»Das wird er nicht wagen!«
Die Worte klangen so lächerlich in ihren Ohren. Wie sollte Samo einem Mann drohen, der Pferd und Waffen besaß – und genügend Skrupellosigkeit, um Unschuldigen den Kopf abzuschlagen.
»Aber …«
»Ich habe ihm gesagt, dass sich in meiner Hütte ein Gast aufhält und dass dieser sehr mächtig ist. Nie würde sich der Fremde mit ihm anlegen.«
Sie weitete ungläubig die Augen. »Wen verschlägt es denn hierher in den Wald?«
»Sieh selbst!«
Gunnora hätte sich am liebsten wieder so klein wie möglich gemacht, doch die Neugier war zu groß, desgleichen die plötzliche Gewissheit, dass Samo – und war er auch noch so verbittert – sie nicht belügen würde.
Erst lugte sie nur aus dem Grubenhaus, dann verließ sie es und erblickte, was auch der Christ gesehen haben musste und was ihn dazu bewogen hatte, fortzureiten: ein weiteres Pferd, das an einem der Bäume angeleint war, einen prächtigen Sattel aus glänzendem Leder und silberne Steigbügel trug und ausdruckslos vor sich hin glotzte.
Der Kennerblick ihres Vaters hätte voller Ehrfurcht auf diesem Tier geruht, und auch wenn Gunnora bei Weitem nicht so viel von Pferden verstand wie einst er, wusste sie sofort, dass, wem immer es gehörte, er reich sein musste, sehr reich.
»Wer … wer ist euer Gast?«
Gunnoras Stimme zitterte, als erneute Panik sie erfasste. Was, wenn der mordlüsterne Christ einen Gefährten hatte?
Samos Schultern hingegen hingen mit einem Mal noch tiefer. Jetzt erst erinnerte sie sich daran, dass Sorge seine Miene verdunkelt hatte, als er die Vorratskammer betreten und sie erblickt hatte.
Mit heiserer Stimme antwortete er: »Deinem Verfolger habe ich seinen Namen nicht genannt. Doch du kannst es ruhig wissen: Graf Richard von der Normandie hat hier Unterschlupf gesucht, nachdem er sich im Wald verirrte.«
Wieder rauschte laut das eigene Blut, obwohl sie dieses Mal nicht die Hände vor die Ohren geschlagen hatte. Und da war plötzlich auch die Stimme ihres Vaters, der ihr einst von der Geschichte der neuen Heimat erzählt hatte: Die Normandie war früher ein schmaler Landstrich im Norden des Frankenreichs. Wiederholt wurde er von unseren Landsmännern und Wikingern aus Norwegen heimgesucht, und da der fränkische König sie nicht mit Waffengewalt zurückschlagen konnte, hat er entschieden, mit ihnen Frieden zu machen. Er gab einem ihrer Anführer das Land als Lehen, jedoch zur Bedingung, dass er sich taufen ließ und ein christliches Leben führen möge. Rollo hieß dieser, und er wurde der erste Graf der Normandie. Sein Sohn Wilhelm, genannt Langschwert, war der zweite. Und jetzt regiert Graf Richard.
Gunnora blickte sich um, doch weiterhin sah sie nur ein prächtiges Pferd, nicht mehrere.
»Was macht er ganz allein im Wald?«, fragte sie.
Sie wusste nicht viel von den Gepflogenheiten hiesiger Grafen und hätte dennoch schwören können, dass Männer seines Ranges nie ohne Leibwache unterwegs waren.
»Er ist mit seinen Männern auf der Jagd gewesen, folgte jedoch einem Tier und fand danach nicht mehr zu seiner Truppe zurück. Ich habe ihm angeboten, ihm dem Weg nach Rouen zu weisen, doch er will nicht gehen. Ich … ich werde ihn einfach nicht los.«
Gunnora starrte Samo an und war sich plötzlich sicher, dass er nicht einfach nur tumb, sondern verrückt war. Ja, das einsame Leben oder die Trauer wegen des ausbleibenden Kindersegens musste ihn den
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