Meisterin der Runen
vor Richard galt es, Thibaud und Lothar und Arnulf und wie sie alle hießen, zu verjagen, und zu diesem Zweck sammelte er alle waffentauglichen Männer, die bereit waren, sich um ihn zu scharen, schloss sich dem normannischen Heer an und kämpfte selbst in einer der vordersten Reihen.
Richard wiederum hatte offenbar von seinem Vater die gleichen Ratschläge bekommen wie er, so auch, dass man, wenn man um Kopf und Krone kämpfte, kein kleinliches Misstrauen gegen einen möglichen Verräter hegen durfte. In seinem Blick war Argwohn gegen Agnarr zu lesen, der sich für gewöhnlich dem Hof in Rouen fernhielt, viel Land besaß, dort Männer um sich versammelte und seine Ziele nicht verriet, doch alsbald schweifte der Blick ab. Es gab nun mal Momente im Leben, da man nehmen musste, was man bekommen konnte – ein wollüstiger Mann eine zahnlose Frau, ein Hungernder einen faulen Fisch und ein Herrscher einen Mann mit Waffe, auch wenn er nicht sicher sein konnte, wen dieser bereits mit besagter Waffe getötet hatte. Bei der großen Schlacht um Rouen waren es jede Menge Franken gewesen, doch deren Blut und der Rausch, in den es ihn kurzfristig versetzte, hatten Agnarr nicht mit dem erzwungenen Kniefall vor Richard versöhnt. Auch seine Männer waren vom Morden nicht befriedigt, sondern mürrisch, dass sie Seite an Seite mit denen kämpfen mussten, die sie doch zutiefst verachteten, gar hassten. An allen Ecken und Enden wähnte er Rebellion auflodern – nach der Schlacht hatte er ein paar eigene Männer erschlagen müssen, um die anderen zu warnen. Seitdem traute sich niemand mehr, offenen Aufruhr zu zeigen, von seiner zänkischen Mutter Aegla abgesehen, der immer etwas einfiel, was der Sohn falsch machte, und die ihn dafür gern vor all seinen Männern zur Rede stellte. Doch die Luft war verpestet, ihrer aller Laune getrübt und der Wald der einzig mögliche Ort, vor den griesgrämigen Gesichtern zu fliehen und durchzuatmen.
Neue Kraft schenkte ihm der Wald nicht. Je länger er durchs Dickicht ritt, desto müder wurde er. Er hatte nicht einmal Lust zu jagen. Als ihm allerdings die Beute regelrecht vor die Füße lief, war er schlagartig hellwach.
Im Nichts war die schwarze Dänin einst verschwunden – aus dem Nichts tauchte sie nun wieder auf. Wochenlang hatte er damals nach ihr suchen lassen, doch ausgerechnet jetzt, da er ziellos durch den Wald strich, wurde er fündig.
Heiß wallte der Triumph in ihm auf, als er sie da vor sich auf dem Boden liegen sah. Trotz allen Scheiterns der letzten Jahre – dies war der Beweis, dass das Schicksal es gut mit ihm meinte. Endlich konnte er sich einer unliebsamen Zeugin entledigen. Endlich in diese blaue Augen Furcht und Entsetzen säen, die sie ihm vor zwei Jahren schuldig geblieben war. Und endlich würde er – anders als damals bei Berit – beim Töten der Erste sein.
Isa, die Rune, die über sämtliche Gefühle eine dünne Eisschicht zog, erwies sich einmal mehr als rettend. Bis sie in sein Gesicht geblickt hatte, hatte Gunnora vermeint, vor Furcht zu sterben. Doch sobald sie ihn betrachtete, waren da plötzlich keine Angst mehr, kein Hass, keine Rachsucht, kein Entsetzen. Da war nur ein schlichter Gedanke: Er hat mich erkannt, er will mich töten. Und der Tod, dessen war sie sich auch gewiss, würde nicht schnell kommen. Vielmehr würde er gleiches quälende Spiel mit ihr treiben wie die Katze mit der Maus.
Er war ein kräftiger Mann mit Waffe und Schwert, sie eine Frau mit nichts als der Kleidung auf ihrem Leib, und das Einzige, was sie ihm voraushatte, war ihre Nüchternheit. In seinem Gesicht standen Gier, Befriedigung, Jagdglück geschrieben, in ihrem … stand nichts.
Wieder huschte nur ein knapper Gedanke durch ihren ansonsten leeren Geist: Sein Pferd ist schneller als ich, aber nicht so wendig.
Die Bäume, die sie eben noch vom sicheren Zuhause ferngehalten hatten, wurden nun zur letzten Rettung. Sie sprang auf, zwängte sich durch zwei, die besonders dicht standen, hindurch und begann zu rennen. Nadeln, Blätter und Ästchen klatschten ihr ins Gesicht. Büschelweise blieben ihre Haare hängen, doch der Schmerz erreichte sie nicht. Schritt vor Schritt zu setzen und sich durchs Dickicht zu kämpfen war alles, was zählte.
Sie hörte Wiehern und Hufgetrappel, mal näher, mal weiter entfernt, wusste, er verfolgte sie, stand ständig kurz davor, sie zu erreichen, aber noch gelang es ihm nicht.
Noch nicht, noch nicht, noch nicht … hämmerte es durch ihren
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