Meisterin der Runen
ward ihr geschenkt. Ihr Schweiß erkaltete, sie fühlte sich erschöpft und begann nun auch zu beben von der Kälte. Sie schrieb mit ihren Fingern die Rune Isa in die Erde, ihre stärkste Verbündete und verlässlichste Freundin und doch nicht mächtig genug, ihr die Angst zu nehmen. Neue Schauder jagte ihr diese über den Rücken, als hinter ihr plötzlich die kleine Tür aufgerissen wurde und eine Stimme ertönte.
»Was tust du hier?«
Samo hatte sich so stark verändert, als hätte sie ihn nicht nur zwei Jahre nicht gesehen, sondern an die zwanzig. Die Haut, ehemals schon gegerbt, war nun gefurcht wie die Rinde eines knorrigen Baumes, die Haare schütter und weiß, der Blick nicht tumb wie einst, sondern gehetzt. Sorge stand darin, und kaum dass er sie sah, kam Unwillen dazu. Seine Schultern sanken, als er in die Kammer trat.
Gunnora konnte keine Rücksicht auf Samos Gefühle nehmen. Rasch legte sie den Zeigefinger an ihren Mund, zum Zeichen, dass er schweigen sollte. Als er dennoch den Mund öffnete, um etwas zu sagen, flüsterte sie panisch: »So sei doch still!«
Eine Weile starrte er sie nur verwirrt an, schien dann jedoch ihre Angst zu wittern und duckte sich unwillkürlich noch tiefer.
»Der Reiter …«, setzte sie flüsternd an.
»Wie’s scheint, ist er eben wieder fortgeritten.«
Also hatte er ihn auch gesehen.
»Nein, er ist nicht fort! Er versteckt sich hinter den Bäumen, und von dort beobachtet er das Haus. Wenn er mich findet … sterbe ich.«
Der wohlvertraute tumbe Ausdruck erschien in Samos Miene – gepaart mit einem neuen Anflug von Ärger, dessen Ursache sie nicht verstand.
»Warum hast du dich ausgerechnet hier versteckt?«, herrschte er sie erstaunlich mitleidslos an.
»Glaub mir, ich hätte mich gern an einem anderen Ort verkrochen. Aber ich brauche Schutz … zumindest für eine Nacht. »
Sie hatte keine Ahnung, wie es am kommenden Tag weitergehen sollte, konnte nur hoffen, dass der Christ, nachdem er stundenlang vergebens nach ihr Ausschau gehalten hatte, von Unrast und Ungeduld gepackt werden würde und fortritt.
Wie es aussah, wollte Samo ihr jedoch nicht einmal diese eine Nacht gönnen.
»Du hast unverhohlen gezeigt, wie verhasst ich und meinesgleichen dir sind – und nun soll ausgerechnet ich dir helfen?«
Sie nahm seine Wut wahr, lodernder als jedes Gefühl, das sie je an ihm wahrgenommen hatte.
»Samo, ich bin die Schwester deiner Frau!«
»Vor allem bist du eine Heidin. Gib es zu: Du hast einen Fluch über Seinfreda gesprochen, damit sie kein Kind von mir empfängt.«
Jetzt endlich begriff sie, woher seine Wut rührte und was ihn so sehr hatte altern lassen. Nie hatte sie darüber nachgedacht, dass die Kinderlosigkeit nicht nur für Seinfreda ein steter Quell von Hader war. Sie witterte seinen Schmerz … die Zweifel an seiner Manneskraft … den Überdruss ob des gewiss quälenden Stichelns der Mutter, dass er die falsche Frau geheiratet hatte.
»Das ist nicht wahr! Ich habe alles getan, um den Fluch abzuwenden!«
»Lügnerin!«
Er packte sie, offenbar, um sie hinauszuwerfen. Seine Fingernägel waren schwarz, die Haut rau und dunkel und seine Hände kräftig. Das war sie allerdings auch – das Leben im Wald hatte sie gestählt. Sie klammerte sich an ihn.
»Bitte nicht! Hast du nicht gehört, was ich dir sagte? Da draußen wartet ein Mann auf mich, der mich töten will. Seinfreda würde dir nie verzeihen, wenn du mich ihm auslieferst.«
Der Klang des Namens seiner Frau ließ ihn innehalten. Er betrachtete sie nachdenklich und zuckte kaum merklich zusammen, als der Boden leicht unter den Hufen eines Pferdes vibrierte.
Wie sie es sich gedacht hatte – die Geduld des Christen hatte sich rasch erschöpft, doch leider nicht mit der erwünschten Wirkung.
»Bitte«, flehte sie erneut.
Samo rang mit sich, seufzte schließlich gottergeben und ließ sie los. »Meinetwegen, versteck dich, ich versuche, ihn abzuwimmeln. Doch wenn es mir gelingt, schuldest du mir einen Gefallen!«
Gunnora nickte rasch. Es war ein Leichtes, ihm dieses Versprechen zu geben. Sie ahnte nicht, wie bald er diesen Gefallen einklagen würde.
Gunnora sank auf den Boden, legte den Kopf auf die Knie und presste die Hände auf die Ohren. Sie wollte nicht zuhören müssen, wie Samo mit dem Christen sprach, wollte nicht bangen müssen, ob der seinen Lügen glaubte, wollte nicht Zeugin werden, wie er ihn womöglich tötete, um sich gewaltsam Zugang zum Haus zu verschaffen.
Eine Weile lauschte
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