Meisterin der Runen
Verstand gekostet haben. Warum sollte der Graf der Normandie freiwillig länger in diesem armseligen Heim verbleiben als unbedingt notwendig?
Samo öffnete den Mund, presste zuerst nur ein Seufzen, dann einen Namen heraus. »Seinfreda …«
»Was ist mit ihr? Ist sie krank?«
Sie konnte nicht begreifen, was Graf Richard mit dem Los ihrer Schwester zu tun hatte, oder wollte es zumindest nicht begreifen.
»Nein, gewiss nicht … sie ist gesund, sehr gesund … sie hat rote Wangen, glänzende Haare … sie hat dem Grafen einen Eintopf gekocht und ihm serviert. Danach wollte sie sich zurückziehen, doch er hat sie an die Hand genommen. ›Bitte, bleib, setz dich zu mir‹, hat er geraunt. Keinen Bissen hat er bis jetzt gegessen. Er hockt nur da … und starrt sie an.«
Gunnora schloss die Augen und vermeinte plötzlich selbst diesen Blick zu spüren, anzüglich … lüstern … giftig … Ihre Schwester war doch so zart! Eine schwere Prüfung war es bereits, sie in Samos Händen zu dulden, doch schlichtweg unerträglich, sie einem Wüterich ausgeliefert zu wissen! Und ein solcher musste Graf Richard sein, sonst würde er doch niemals einen begehrlichen Blick auf die Ehefrau eines Waldhüters werfen!
»Er weiß doch, dass sie mit dir verheiratet ist, oder nicht?«, rief sie empört.
Samo zuckte die Schultern. »Für Herren wie ihn macht das keinen Unterschied …«
Gunnora stampfte auf. »Herren wie ihn! Er sollte seinem Volk ein Vorbild sein und vergreift sich stattdessen an braven Ehefrauen!«
»Noch hat er nichts getan, aber nun wird es bald Nacht, und er will immer noch nicht gehen. Er will …«
Er brach ab.
Er will Seinfreda.
Bis eben hatte Gunnora gefroren, nun wurde ihr heiß vor Hass. Vielleicht war es Graf Richard gewesen, der dem Christen einst den Auftrag erteilt hatte, die Ankömmlinge aus dem Norden niederzumetzeln. So konnte … so musste es sein!
Während ihr Zorn wuchs, schien der von Samo zu schwinden. Blanke Hilflosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Deine Mutter …«, setzte Gunnora an.
»Sie ist nicht hier. Erst gestern brach sie auf, um Mehl zu holen. Doch sie könnte ohnehin nichts gegen den Grafen ausrichten. Seinfreda nahm mich vorhin zur Seite und sagte, dass es am besten sei nachzugeben. Gewiss, er hat nicht offen gefordert, dass sie die Nacht mit ihm verbringt, aber jede Geste zeigt, dass er genau darauf aus ist.«
Gunnora wusste, dass er die Wahrheit sprach. Seinfreda war zart, weich … biegsam. Und sie war schon einmal bereit gewesen, sich für ihre Familie zu opfern. Erneut stampfte sie auf. Warum war Seinfreda nur so schnell bereit, sich willig den Mächtigeren zu fügen? Warum ließ sie immer alles mit sich geschehen?
»Es muss doch einen Ausweg geben!«, rief sie.
Ihr selbst fiel jedoch keiner ein. Richard fortzuschicken würde ihn womöglich so sehr erzürnen, dass er Seinfreda gewaltsam nahm. Und ihn hinterrücks zu erschlagen, wie es ihr kurz in den Sinn gekommen war, würde die Rache seiner Männer auf sie ziehen.
Während sie vergebens nach einer Lösung suchte, schwand der Ausdruck von Sorge und Ohnmacht aus Samos Miene.
»Bis eben dachte ich, wir hätten keine andere Wahl. Aber jetzt bist ja du da«, sagte er.
Verspätet begriff sie, was er da sagte.
Bis eben … keine andere Wahl … aber jetzt …
Die Kehle wurde ihr eng. »Was meinst du?«
»Ich habe doch eben diesen Fremden vertrieben, und dafür schuldest du mir einen Gefallen.«
Er erwiderte ihren Blick erstaunlich wach und erstaunlich berechnend.
»Was soll ich denn tun?«, fragte sie tonlos.
»Das weißt du genau.«
Gunnora folgte Samo zum Haus, betrat es aber nicht. Durch einen Türspalt lugte sie hinein, um den Grafen zu betrachten. Er saß am Tisch, rechts und links von ihm hatten ihre beiden jüngsten Schwestern Platz genommen.
Gunnora zuckte zurück, denn einen vermeintlich friedlichen Anblick wie diesen hatte sie nicht erwartet. Überdies hatte sie Graf Richard für größer gehalten – mindestens so groß wie den Christen, wobei der vielleicht nur auf dem Pferd so mächtig wirkte. In jedem Fall hätte sie schwören können, dass sein Gesicht hässlich wäre, seine Züge grausam, sein Blick kalt. Stattdessen hatte er ein freundliches, jungenhaftes Lächeln aufgesetzt, das Wevia und Duvelina freimütig erwiderten, nicht wissend, in welche Zwangslage der Gast Seinfreda gestürzt hatte … und nun auch sie, Gunnora.
Er ist ein Mensch, der Freude am Necken, am Erobern, an hübschen
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