Meisterin der Runen
all den schönen Dingen geworden an dem Tag, da er starb? Spielten jetzt andere Kinder damit?
Nicht nur Geweih von Wild eigne sich zum Schnitzen, hatte er ihr erklärt, auch harte Laubholzarten, die gut abgelagert sein mussten, damit sie nicht mehr zu Trockenrissen neigten. Sie war sich nicht sicher, ob sie selbst heute brechen würde oder viel zu hart dazu geworden war.
Einmal, daran konnte sie sich auch erinnern, hatte sie geklagt, dass er nur Ziegenhorn zum Schnitzen hatte, nicht das edle Geweih eines Rothirsches.
»Es stimmt, wir sind zu arm, um uns Letzteres zu leisten«, hatte Walram erklärt. »Aber bedenke: Der Rothirsch ist ein scheues Tier, das flieht, wenn es Schritte im Unterholz hört. Der Ziegenbock hingegen ist bekannt für sein meckerndes Gelächter und dafür, dass er dir das Horn in den Leib rammt, gibst du nicht Obacht. Ein Wesen mag von niedrigerem Wert sein als das andere, die Kuh billiger als das Pferd, das Lamm billiger als das Schwein und das Huhn billiger als das Schaf, doch wer es dafür verachtet, verkennt: Auch räudige Hunde können beißen, auch zahnlose Greise Behaglichkeit empfinden, auch waffenlose Männer Stolz besitzen.«
Damals hatte sie nicht verstanden, was der Vater meinte. Nun erst ging ihr auf, was seine Worte verhießen: Es stand niemandem, auch einem Grafen nicht, zu, andere in den Staub zu treten, und wenn er es dennoch tat, entehrte er nicht diese, sondern sich selbst.
Gunnora ließ den Kamm sinken und malte Runen in den lehmigen Boden.
Isa, die Rune für Eiseskälte.
Naudhiz, die Rune für den Willen, die Not zu lindern.
Othala, die Rune der Frauen, die ihnen die Macht über das Leben verlieh.
Sie überlegte kurz, eine Rune zu malen, die Richard die Manneskraft raubte, unterließ es aber.
Seinfreda starrte sie immer noch wortlos an, Gunnora erwiderte herausfordernd den Blick ihrer Schwester. »Verstehst du jetzt, warum ich den Bräuchen unserer Heimat treu bleibe? In unserer Heimat dürfen sich Frauen von ihrem Mann trennen, wann immer sie es wollen, und darauf, eine Jungfrau mit Gewalt zu nehmen oder die Frau eines anderen, stehen schwere Strafen.«
Seinfreda presste die Zähne aufeinander. »Auch in diesem Land gibt es Gesetze.«
»Warum hält er sich dann nicht daran?«
»Weil er der Graf ist und darüber steht.« Seinfreda zögerte. »Ich glaube, er meint es nicht böse.«
Gunnora nickte. Das glaubte sie auch. Von allem erschien ihr das als der größte Frevel.
Der Nachthimmel glich einem schwarzen Meer, in dem der Mond mit all seinen Sternen ertrunken war. Gunnora konnte nach der langen Zeit, die sie nun schon allein im Wald lebte, jedoch ihren Sinnen trauen. Sie erreichte den Schuppen, ohne zu stolpern, und als sie ihn betrat, fühlte sie, dass er nicht auf dem Boden lag oder hockte, sondern sie stehend erwartete. Obwohl er sie noch nicht berührte, vermeinte sie, seinen Körper zu spüren. Die Wärme, die von ihm ausging, drohte sie kurz einzuschläfern, ehe ihre Eiseskälte sie wieder zurück in die Wirklichkeit schmetterte.
»Seinfreda?«
Sie hatte beschlossen, es in aufrechter Haltung hinter sich zu bringen, jedoch nicht bedacht, was sie zu ihm sagen sollte, ja, dass überhaupt noch Worte nötig waren.
»Ich bin hier, so wie Ihr es wolltet.«
Sie unterdrückte den bissigen Unterton, der ihr zu eigen war, doch was sie nicht konnte, war, fließendes Fränkisch zu reden, wie Seinfreda es beherrschte, weswegen sie das Dänische benutzte.
Zu ihrem Erstaunen verstand er sie, und noch größer war ihr Erstaunen, als er ihr in derselben Sprache antwortete.
»Darüber freue ich mich.«
»Ihr sprecht Dänisch?«
Trotz der Dunkelheit glaubte sie zu sehen, wie er nickte. »Als ich ein Kind war, wurde ich nach Bayeux geschickt, um die danisca lingua zu erlernen, die dort gesprochen wird. Meinem Vater Wilhelm war das sehr wichtig. Er selbst hatte sich der fränkischen Kultur ganz und gar angepasst, aber in unserem Land leben so viele Menschen des Nordens, die ihm auf diesem Weg nur halbherzig gefolgt waren, und er wollte, dass ich sie verstehe.«
Und?, hätte sie am liebsten gesagt. Verstehst du sie tatsächlich? Hältst du eine Frau, die im Wald sitzt und Runen schnitzt, für eine Hexe oder für eine Weise? Würdest du sie genauso begehren wie die goldlockige, zarte Gattin eines fränkischen Waldhüters?
Er trat zu ihr. An ihrer Stimme hatte er sie nicht erkannt, doch vielleicht würde ihm jetzt, da er über ihre Haare strich, auffallen, dass diese
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