Meisterin der Runen
jungfräulichen Blutes und Graf Richards Samen. Ekel überkam sie, zugleich jedoch – da sie so stark zitterte – Sehnsucht nach der Wärme, die sie trotz allem bei ihm gefunden hatte.
Wenig später reichte die fremde Frau ihr Kleidung und erklärte, wie man sie trug – mehrere Untertuniken nämlich übereinander, darüber ein Kleid und einen prächtigen Gürtel mit golden schimmernder Schnalle, außerdem eine Palla, einen Umhang, der an der Brust mit einer Fibel geschlossen und in Fußhöhe durch Edelsteine beschwert wurde, damit er glatt bis über die Knöchel fiel.
Wevia würde den Schmuck lieben.
»Er … er hat mir versprochen, meine Schwestern an den Hof zu holen«, stammelte Gunnora. »Wird er sich daran halten?«
Erstmals blickte die fremde Frau sie wieder an und reichte ihr einen Kamm. Gunnora fuhr sich rasch durch die Haare, flocht sie zu einem strammen Zopf und band ihn am Ende mit einem Band, das ihr die Frau reichte, fest.
»Graf Richard mag manchen leichtsinnig erscheinen, sprunghaft und oberflächlich. Aber ich habe noch nie erlebt, dass er ein Versprechen brach.«
Gunnora entspannte sich ein wenig.
»Im Übrigen kannst du ihn gleich selbst fragen«, fuhr die andere fort, »ich soll dich zu ihm bringen, sobald du angekleidet bist.«
Sofort verkrampfte Gunnora sich wieder, auch wenn sie versuchte, eine ausdruckslose Miene zu bewahren und dem Blick der anderen zu trotzen, als diese sie prüfend betrachtete.
»Wie heißt du?«
»Mathilda. Ich helfe dem Mansionarius bei der Hofhaltung.«
Gunnora hatte keine Ahnung, was ein Mansionarius war, und wollte sich auch nicht die Blöße geben, danach zu fragen, aber sie entschied, sich dieses Wort zu merken.
»Komm mit!«
Sie gingen einen Gang entlang und stiegen die Stufen an dessen Ende nach oben. Nie hatte Gunnora so viele auf einmal gesehen. Nie auch Räume, die so prächtig schienen wie die Kleider, die sie trug: Teppiche und Felle bedeckten die Steinwände, an mancher Stelle waren diese auch bemalt. Nicht nur Fackeln beleuchteten sie, sondern Lampen, die nicht nach dem ranzigen Fischtran rochen, wie sie es aus Dänemark kannte, sondern köstlich und würzig.
Aus den Räumen lugten Frauen und weitere Kinder, vielleicht Richards Konkubinen und seine Bastarde. Waren sie alle freiwillig hier? Nun, sie wirkten neugierig und spöttisch – nicht verzweifelt oder verängstigt. Wevia und Duvelina werden hier nicht weiter auffallen, dachte Gunnora.
Noch mehr Stufen legten sie zurück, und schließlich waren sie ganz oben im Turmzimmer angekommen. Der Boden war mit Holzdielen belegt, die Wände mit Fellen von Hirschen, Luchsen und Auerochsen geschmückt und der Kamin, in dem ein Feuer brannte, aus Stein gebaut.
Richard saß auf einem Stuhl. Gunnora sah erstaunt, dass er nicht nur eine Rückenlehne hatte, man konnte auch seine Arme aufstützen. Nachdenklich hörte er einem älteren Mann zu.
»Wir müssen Évreux so schnell wie möglich wieder in unsere Hand bekommen«, erklärte dieser.
Richard nickte. »Gewiss«, sagte er. »Es darf nicht sein, dass die Stadt weiterhin von Thibauds Männern gehalten wird. Es wäre für all meine Feinde ein Zeichen, dass unser Sieg nicht vollendet wurde.«
»Eine Belagerung würde allerdings Monate dauern, und falls sie scheitert, wäre deine Schmach noch größer.«
»Dann gilt es, auf List zu setzen und auf Bestechung.«
Der andere nickte. »Und du musst entscheiden, was mit den Gefangenen passiert, die nach der Schlacht in unsere Hände fallen.«
Richard überlegte kurz, ehe er entschlossen verkündete: »Die meisten haben reiche Familien – sollen diese sie doch freikaufen. Auf diese Weise haben wir mehr gewonnen, als wenn wir sie zu Sklaven machen.«
Gunnora verstand nicht, wovon die Rede war, aber versuchte erneut, sich jedes Wort einzuprägen. Um im Wald zu überleben, hatte sie lernen müssen, seine Geräusche zu deuten, hier, das begriff sie rasch, galt es, die Menschen zu studieren und herauszufinden, was sie antrieb, sorgte, erfreute.
Richards Gesicht wirkte ernst und konzentriert, doch als er sie erblickte, lächelte er. Auf sein Zeichen hin verließ der Mann den Raum, und Mathilda folgte wenig später. Gunnora erwiderte Richards Lächeln nicht.
»Warum schaust du gar so böse?«, fragte er verdutzt. »Vor einigen Stunden hast du mich regelrecht angefleht, dich nicht im Wald zurückzulassen!«
»Was ist mit meinen Schwestern? Du hast versprochen, sie herzubringen!«
Er erhob sich wendig aus
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