Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
sonderbare Schriftstück auch.
    Bald hatte Emma sie eingeholt. »Nun rede endlich mit mir!«, befahl sie.
    Agnes war so außer Atem, dass sie wieder nur stammeln konnte. »Ein Geheimnis … so gefährlich … die Zukunft der Normandie …«
    »Du bist tatsächlich verrückt geworden!«
    »Nein, aber …«
    Eben noch so erpicht, das Schriftstück zu bekommen, musste Agnes schlucken, als sie die Zeichen erneut studierte. Auch wenn sich das Pergament glatt und kalt anfühlte, vermeinte sie kurz, sich daran zu verbrennen.
    »Weißt du, was da steht?«, fragte sie. »Die Zeichen schauen aus wie Buchstaben und doch wieder nicht.«
    Emma runzelte misstrauisch die Stirn. »Sagst du mir nun endlich, was du im Gemach meiner Mutter getrieben hast?«
    Agnes leckte sich über die Lippen. »Gleich … aber vorerst … müssen wir das hier verstecken.«
    »Verstecken vor wem?«
    »Nun, vor Bruder Remi und Bruder Ouen.«
    Emma blickte sie vorwurfsvoll an, aber als sie näher trat, sich über das Pergament beugte und es aufmerksamer als zuvor studierte, wurde das sonst so kühle, beherrschte Mädchen plötzlich weiß im Gesicht.
    Agnes unterdrückte ein Stöhnen. Worauf hatte sie sich nur eingelassen, als sie beschlossen hatte, das Geheimnis der Gräfin zu lüften?
    »Die Mönche behaupten, die Zukunft der Normandie stünde auf dem Spiel. Sie wollen, dass sie wieder fränkisches Gebiet wird, und …« Sie brach ab. Emmas Blick war immer noch starr auf die Zeichen gerichtet. »Was … was steht da geschrieben? Kannst du diese Zeichen lesen?«
    Zu ihrem Erstaunen schüttelte Emma den Kopf, was Agnes noch verzagter stimmte. Emma gab ansonsten nie zu, wenn sie etwas nicht konnte, desgleichen nicht, dass sie sich fürchtete. Doch nun erschauderte sie und versuchte nicht im Geringsten, das vor ihr zu verbergen.
    »Es geht nicht darum, was diese Wörter, diese Zeichen bedeuten, sondern was sie … bewirken.«
    »Was meinst du?«
    »In ihnen wohnt eine ganz besondere Macht. Sie können zum Segen werden oder …« Emma leckte sich über die Lippen.
    »Oder?«, bedrängte Agnes die Gefährtin.
    »… oder zum Fluch«, sagte Emma leise.
    Agnes hatte sich noch nicht vom Schrecken erholt, den diese Worte bewirkten, als sie in der Ferne Bruder Remi und Bruder Ouen zurückkehren sah.

VI.
964
    Schritte, Stimmen, Klirren, Prasseln. So viele Geräusche, so viele Menschen. So wenig Wald, so wenig Stille.
    Gunnora dachte, ihr Kopf müsste zerplatzen ob all der vielen Reize, die ihren entwöhnten Sinnen zusetzten. Eben noch war es ihr nahezu unerträglich gewesen, vor Richard auf dem Pferd zu sitzen und jede Bewegung seines Körpers zu fühlen, doch nun, da er sich in seine Gemächer zurückgezogen hatte, fühlte sie sich verlassen. Sie kannte diese Welt nicht, und sie wollte sie nicht kennenlernen.
    »Komm mit!«
    Sie hob den Blick. Es war nicht die Frau mit den traurigen Augen und der spitzen Zunge, sondern eine ältere, die sie jetzt ansprach. Sie sah der anderen ähnlich, aber das hatte nichts zu bedeuten – hier sahen alle Frauen gleich aus, mit ihren geflochtenen Haaren, die im Nacken zu einem Knoten gewunden und mit einem Schleier bedeckt waren, und den weich fallenden, sauberen Kleidern.
    Auch sie solle nun ein solches Kleid bekommen, verkündete die andere. Ihr Blick war abschätzend und etwas nachdenklich, aber nicht bösartig.
    Gunnora atmete tief durch und kämpfte gegen das Gefühl von Benommenheit an, als sie der Frau folgte. Sie betraten ein großes Haus, riesiger als sämtliche, die sie je gesehen hatte. Die Wände waren so dick, dass kein Wind hindurchpfiff. Umso lauter hallten ihre Schritte. Gunnora schwindelte es.
    »Ist dir auch wohl?«, fragte die fremde Frau, streckte ihr die Hand entgegen und wollte sie stützen.
    Trotz ihrer Freundlichkeit blickte Gunnora sie finster an. »Berühr mich nicht!«, zischte sie.
    Augenblicklich wich die andere zurück und sagte nichts mehr. Als sie wenig später einen Raum voller Frauen und Kinder betraten, schickte sie sie alle hinaus. Sie war, so fest wie ihre Stimme klang, zu befehlen gewohnt, und die anderen wohl zu gehorchen, denn sie fügten sich ihr ohne Widerworte. Nun waren sie allein. Die Frau stellte schweigend einen Eimer mit Wasser vor sie hin.
    Gunnora war erleichtert, dass sie sich überdies abwandte, während sie sich auskleidete und mit einem Tuch abrieb. Ihre Haut begann prompt zu brennen – wegen der Kälte, aber auch vor Scham. Auf den Schenkeln klebten noch Spuren ihres

Weitere Kostenlose Bücher