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Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia

Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia

Titel: Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Luft flimmerte, die Wirklichkeit schien sich aufzulösen in viele kleine Mosaiksteinchen. Es war, als bestünde die Realität nur aus einem gut dressierten Insektenschwarm, aus Millionen und Abermillionen winziger, flatternder, surrender Tierchen, deren Chitinpanzer je nach Aufprallrichtung des Lichts in unterschiedlichen Farben schillerten. Doch in die Insekten war Unruhe gekommen, und sie konnten jeden Augenblick auseinanderstieben – und dann würde nichts mehr übrigbleiben von ihrer Welt.
    Die Luft wurde so flatterig und lebhaft, dass Melanie kaum mehr sehen konnte, wohin sie ging. Ehe sie das Ende des Korridors erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal zu den anderen herum und stellte fest, dass sie ihr nachsahen, erstaunt und wie gelähmt. Sie erwog, zu ihnen hinüberzugehen und mit ihnen zu sprechen, ihnen all die Fragen zu stellen, die sie dem Mann unten auf der Straße schon hatte stellen wollen, und noch viele neue dazu, die jeden Augenblick in ihr entstanden.
    Dann merkte sie, dass sie vor einer geöffneten Tür stand. Es war die letzte in diesem Flur. Die letzte auf der linken Seite.
    Das Zimmer hinter der Türöffnung war anders als diese Welt. Auch dort prasselte und flimmerte es, doch es war kein Chaos, sondern eine Ordnung. Der beste Vergleich, der Melanie einfiel, war, dass es sich anfühlte, als blicke man in ein lebendig gewordenes Jugendstil-Gemälde hinein, und das, während die Welt, zu der der Korridor, das ganze Haus und seine Umgebung gehörte, eher an einen Van Gogh erinnerte. Das Licht im Zimmer tanzte in komplizierten, aber vollkommen gleichmäßigen, floralen Formen, und aus den Geräuschen wurde eine Art Musik, eine Symphonie aus elektrischem Zischen und Knistern.
    Melanie trat ein. Der Raum war riesig. Größer als das ganze Haus.
    Merkwürdige, helle, regalartige Möbelstücke schwebten durch die Luft, bis hoch hinauf. Eine Decke schien es nicht zu geben, und die Wände waren weiße Nebelbänke in der Ferne. Zwischen den Regalen bewegten sich schwerelos schmale Objekte hindurch, die sie zuerst für aufblasbare Puppen – phantasievoll geformte Luftballons – hielt, bis sie sah, dass sie ihre Arme und Beine und Köpfe bewegten. Es waren Menschen, oder zumindest Lebewesen, Außerirdische vielleicht, oder Engel, mit feinen, langgezogenen Gliedern, zu weit entfernt, um Genaueres erkennen zu lassen.
    Was war das in den Regalen? Metallische, runde Kästen, Behälter vielleicht, wie Filmdosen.
    Das passte alles nicht zusammen.
    „Sie sind hier?“ Eine Stimme erklang hinter ihr, krächzend, verzerrt von den regellosen, wirren Geräuschen außerhalb des Zimmers, die sich hier, im Inneren zur Musik formten. „Das ist unglaublich. Ich verstehe das nicht.“
    Melanie war es beinahe unmöglich, sich von dem wunderschönen Bild abzuwenden. Sie wusste nicht, wie sie sich den Himmel vorgestellt hätte, aber wenn ihr jemand gesagt hätte, sie stünde nun davor, dann hätte sie es geglaubt, trotz der seltsamen Filmdosen, trotz der Tatsache, dass die Engel keine Flügel hatten, sondern aussahen, wie in die Länge gezerrte Menschen aus Gummi.
    Eine Hand berührte sie. Es gab eine elektrische Ladung, die draußen als hässliches Knacken begann und als kleine, harmonische Melodielinie in den Raum hineinschwebte und dort in dem symphonischen Netz aus Licht und Klang verwebt wurde.
    Melanie drehte den Kopf.
    Sah den Mann mit dem schmalen Gesicht und den langen Haaren.
    Er hatte eine scharf geschnittene Nase, feine Züge. Die Haare waren etwas fettig. Lichtblitze huschten darüber, quietschend.
    „Wie ist das möglich?“, fragte er sie.
    Als ob sie eine Antwort hätte!
    Sie lächelte ihn unsicher an.
    Und dann zog sie etwas fort.
    Nicht Melanie, sondern ihre Umgebung. Sie rutschte unter ihr weg. Bei manchen Fernsehern sah es beim Abschalten so aus, als klappe das Gerät das Bild zusammen und verstaue es in seinem Inneren. So ähnlich war es.
    „Nein. Ich will nicht!“ Das Kratzen und Rauschen verschwand aus ihrer Stimme, und sie wurde rein, natürlich, menschlich, wie sie gewesen war, als sie noch gelebt hatte.
    „Nicht!“, rief ihr der Mann nach und versuchte sie festzuhalten. Doch da war nichts mehr. Es knisterte nicht einmal. Für ihn löste sie sich auf.
    Aber diese Welt, die sie gesehen hatte, verschwand nicht ganz für sie. Sie wurde ihr gestohlen, weggesteckt in eine andere Realität. Aber in gewisser Weise blieb sie in ihr, als sie diesen Ort verließ. Etwas sagte ihr, dass sie immer

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