Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia
den Tiefen ihrer Erinnerung verschwunden. Obwohl es nur zweieinhalb Jahre zurücklag, waren ihre Eindrücke, ihr Erlebnis verschwommen, beinahe vollkommen ausgelöscht. Die Gehirnerschütterung, die noch die harmloseste Verletzung gewesen war, musste dafür verantwortlich sein. Nur ein paar Erinnerungen an einen wirren Traum waren zurückgeblieben. An das zweite Bad in Angstschweiß ihres Lebens konnte sie sich dagegen noch ausgezeichnet erinnern. Schon damals hatte sie das Gefühl gehabt, es mit einer gefährlichen Irren zu tun zu haben. Seit wenigen Sekunden war sie da ganz sicher.
Und jetzt war es zu spät. Sie hätte nicht zögern dürfen, hätte dafür sorgen müssen, dass Madoka irgendwohin weggesperrt wurde.
Wie Lorenz von Adlerbrunn.
Die Japanerin erreichte Melanie und starrte ihr in die Augen. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze des Hasses. „Wer immer mich jetzt durch diese Augen beobachtet“, sagte sie, „er wird gleich erleben, wie der Bildschirm schwarz wird.“
Melanie duckte sich weg. Obwohl Madokas Schlag ansatzlos kam, hatte sie ihn diesmal vorausgeahnt. Sie ließ sich fallen, wirbelte zur Seite, berührte mit den Händen den Waldboden und stieß sich ab, lief los. Erde und Steinchen spritzten unter ihren Füßen weg. Sie kam fünf, sechs Schritte weit, dann trat ein Fuß in ihren Lauf, brutal von hinten, und sie stürzte so überraschend, dass sie sich einmal überschlug. Noch ehe sie aufkam, drehte sie sich zur Seite, machte einen zweiten Fluchtversuch in eine andere Richtung. Diesmal kam sie weiter, arbeitete sich einen Vorsprung heraus – bis etwas Hartes gegen ihre Schulter prallte.
Sie schrie ihren Schmerz hinaus. Ein Holzstück oder ein Stein, sie wusste nicht, was sie getroffen hatte, aber es hatte höllisch wehgetan. Sie strauchelte, vor ihren Augen war einen Augenblick lang nur Schwärze, und dann flog Madoka von hinten auf ihren Rücken, fiel mit ihr zusammen zu Boden. Der Japanerin passierte nichts – Melanie dämpfte ihren Sturz ab wie ein Kissen.
Keuchend drehte sie sich herum. Alles tat ihr weh, am meisten ihre Hände, mit denen sie den doppelten Schwung von zwei Menschen abgefangen hatte. Als sie sie ansah, waren sie aufgeschürft, die Haut an einigen Stellen in Fetzen.
„Ich weiß nichts davon“, ächzte sie. „Ich schwöre …“ – sie schluckte ihre Schmerzen zusammen mit ihrer Angst hinunter und öffnete die Augen – „ich schwöre bei Gott … ich weiß nicht, wovon du sprichst …“ Melanie drehte Madoka das Gesicht zu und bot ihr ihre Kehle dar, wie Tiere es taten, die im Kampf unterlagen.
Madoka erstarrte. Nur ihre Augen bewegten sich, ihr Gesicht war ganz nahe an dem des liegenden Mädchens, ihre Blicke hüpften auf Melanies Miene hin und her und verschmolzen immer wieder mit den ihren. Offenbar versuchte sie herauszufinden, ob die Rothaarige die Wahrheit sprach.
„Ich habe kein Geheimnis“, krächzte Melanie. „Ich weiß … jeder auf dieser Schule trägt irgendetwas mit sich herum, sogar Isabel und Harald und Georg, aber … ich bin nur ein normales Mädchen. Da ist nichts. Meine Vergangenheit ist … langweilig, alltäglich.“
„Bis du sicher?“, fragte Madoka, und ihre Stimme klang spöttisch, als würde sie ihr noch immer nicht glauben.
„Ich hatte einen Unfall vor zwei Jahren“, sagte Melanie. Sie wusste gar nicht, warum sie das erzählte. „Mit dem Wagen. Ich war einige Minuten klinisch tot, und ich hatte einen komischen Traum. Das ist alles. Sonst ist in meinem Leben nichts passiert, was … was es wert wäre, erzählt zu werden. Bitte! Bitte, es mag sein, dass da auf Falkengrund irgendetwas vorgeht, was ich nicht weiß. Aber ich bin kein Teil davon.“ Sie lachte nervös auf. „Ich bin das Mädchen von nebenan – das Mädchen in der Menge – ich habe keine Geheimnisse …“
„Vielleicht hast du ein Geheimnis vor dir selbst.“ Die Japanerin stieg von ihrer Gegnerin herunter und stellte sich neben sie. Melanie wagte nicht aufzustehen, denn sie hatte kein Zeichen der Aufforderung erhalten. Madoka sah noch immer aus, als würde sie nicht zögern, sie zu zertreten, wenn sie eine falsche Bewegung machte.
„Ein Geheimnis – vor mir selbst?“ Melanie spuckte einige Tannennadeln aus, die in ihren Mund gelangt waren.
„Was war das für ein Traum, von dem du gerade gesprochen hast?“
„Der Traum? Nichts Besonderes. Zuerst zog mein Leben an mir vorbei, genau, wie man das immer hört. Und dann träumte ich … von
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