Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia

Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia

Titel: Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
Blick auf die ratternde, flappende Anzeigentafel schien es ihm, als könne er in diesem Moment überallhin reisen, nicht nur zu jedem geografischen Ort auf der Welt, auch zu jeder alternativen Realität, zu jeder Vision, zu jeder Geschichte, die je geschrieben worden war.
    Geschichte.
    Über die Tafel glitten zwei Flüge nach Amsterdam.
    Da fiel ihm Falkengrunds Sir Darren ein. In dem dreiteiligen Abenteuer „80 Tage in den Tod“, den einzigen Falkengrund-Episoden, die ihm wirklich gefallen hatten, Hut ab, versuchte Sir Edgar Darren nach London zu reisen, blieb dann jedoch unter mysteriösen Umständen an seinem Umsteigeort Amsterdam hängen. In der niederländischen Hauptstadt entdeckte er einen englischen Club, dessen Mitglieder Geister waren, und schloss mit diesen eine abstruse Wette ab. Er wurde selbst zum Spuk und reiste als solcher einmal um die Erde. Und zwar auf so berühmten Geisterschiffen wie dem Fliegenden Holländer und der Mary Celeste. Seine Reise führte ihn nicht nur rund um den Globus, sondern auch mitten durch einige literarische Werke hindurch, etwa durch eine Erzählung von Edgar Allen Poe und durch Coleridges „Ballade vom alten Seemann“.
    Dr. Gebhard Schlier bekam plötzlich Lust, nach Amsterdam zu reisen. Spontan und sofort. Dort würde er nach dem British Reformers Club suchen. Wenn es diese obskure Schule des Okkulten wirklich gab, vielleicht existierte dann auch der Club, in dem Sir Darrens großes Abenteuer seinen Anfang genommen hatte. Auch ohne echte Gespenster-Mitglieder als Inventar würde es Schlier ein Vergnügen sein, die Clubräume zu betreten. Und dort womöglich eine Wette abzuschließen, die er nicht gewinnen konnte.
    Seit seiner Reise nach Wolfach war das bleierne Gefühl von ihm abgefallen, das ihn überkam, wenn er an die Zeit nach seiner Verabschiedung dachte. Jetzt fühlte er sich beinahe schwerelos. Er hatte doch nichts zu verlieren, konnte sich jede Dummheit erlauben, sich auf jedes Abenteuer einlassen. Er hatte keine Familie, um die er sich Sorgen machen musste, keinen Ruf zu verteidigen. Vierzig Jahre lang hatte er getan, was man von ihm erwartete, war auf sehr deutsche, sehr beamtenhafte Weise mit dem unerhörten Thema Phantastik so nüchtern und analytisch umgegangen, wie dies nur menschenmöglich war. Vier Jahrzehnte rationaler Beschäftigung mit dem Irrationalen – war das nicht genug? War es nicht Zeit, zum Abenteurer zu werden, zum Piraten, zum Desperado?
    Zum Phantasten?
    Natürlich würde es unter dem Strich nur eine Reise nach Amsterdam werden, kein Trip in eine Fantasiewelt, so viel war ihm schon klar, aber allein das Gefühl, in den Fußspuren einer Romanfigur zu wandeln, ließ sein Herz schneller schlagen. Seine Vorlesung würde erst in einer Woche beginnen und war komplett vorbereitet – da bleib ausreichend Zeit für ein paar Tage Spontanurlaub.
    „Sir Darren!“, rief er. „Ich folge Ihnen!“
    „Watt wollnse?“, fragte eine dicke Dame neben ihm.
    „Verzeihung!“ Schlier lächelte schüchtern und entfernte sich. Er fand einen Schalter, an dem er sich erkundigte, ob kurzfristig ein Flug nach Amsterdam buchbar sei. Man schickte ihn an eine andere Stelle, von dort wieder an eine andere, und eine halbe Stunde später hatte er bei einer jungen, exotisch wirkenden Dame ein Ticket für einen Flug erworben, der in drei Stunden abheben würde. Die Zeit bis dahin schlug er mit Essen und Lesen tot. Damit hatte er schon sein ganzes Leben totgeschlagen.
    Amsterdam. Unglaublich! Er hatte seinen Rückflug nach Mannheim mutwillig versäumt, um einen Abstecher nach Holland zu machen. Und alles wegen einer Figur aus einer Serie, die vermutlich keine hundert Leser hatte und die niemals ein Literaturkritiker wahrnehmen würde.
    Sir Darren Edgar.
    Ein ganz klein wenig sah er sich als eine Art Sir Darren. Intellektuell, belesen, distanziert. Natürlich ohne den Spiritismus, denn Spiritismus war keine ernsthafte Wissenschaft. Na gut, ein bisschen etwas über Geister und ihre Welt hatte er bei seinen Studien schon erfahren. Ein Gespräch hätte er sich schon zugetraut.
    Warum nur hatte er nicht nach Sir Darren gefragt, als er auf Falkengrund war? Die Köchin hatte ja bestätigt, dass nun Traude Gunkel seine Stelle einnahm. Da der gute Mann aber unmöglich eine Welt- und Zeitreise unternommen haben konnte, wie sie in der Serie beschrieben wurde, musste sein Ausscheiden andere Gründe haben. Dem Professor schmerzte der Kopf, wenn er allzu angestrengt darüber

Weitere Kostenlose Bücher