Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia
Sekunden funktionierte. Dass man noch etwas von dem Danach mitbekam, ehe man die Welt verließ.
Eine Ohnmacht griff nach ihm – der Tod, der Tod! Trotz seiner Schmerzen hieß er sie nicht willkommen. Er kämpfte gegen sie an und hielt an seinen Schmerzen fest. Der analytische Wissenschaftler in ihm sagte, dass er lebte, solange er seine Schmerzen spürte. Also musste er lernen, seine Schmerzen zu lieben wie ein Masochist.
Wie lange er kämpfte, wusste er nicht. Die Schmerzen halfen ihm. Sie waren seine stärkste Waffe gegen den als Ohnmacht getarnten Tod. Irgendwann gab er seine Position auf, wagte es, seine Glieder zu bewegen und sich zurückzulehnen. Von dem Augenblick an ging es ihm etwas besser. Ihm fiel auf, dass nicht nur die Motoren verstummt waren – auch die Passagiere gaben keinen Laut mehr von sich. Mussten sie nicht stöhnen und wimmern vor Qualen?
Waren sie alle …
Er schlug die Augen auf und blickte als Erstes zur Seite. Die blonde Frau saß nicht mehr auf ihrem Platz. Sie hing jetzt über der Lehne, eine leblose Puppe, der Kopf ein blutiges Etwas, die Glieder verdreht. Offenbar war sie beim Aufprall aus ihrem Sitz geschleudert worden, anschließend vermutlich gegen die niedrige Decke (den Ablagekasten mit dem Handgepäck) geprallt und wieder herabgefallen.
Wie betäubt suchte Schlier nach dem Bügel, mit dem er seinen Gurt öffnen konnte. Seine Hände zitterten dabei so, dass er sich mit dem einfachen Mechanismus schwertat. Auf eine gespenstische Weise begann er sich an seine Schmerzen zu gewöhnen – entweder ein Zeichen, dass der Tod nahe war oder dass er sich nicht ernsthaft verletzt hatte. Er versuchte aufzustehen, und es gelang ihm. Ein Schritt auf den Gang ließ ihn das Ausmaß des Unglücks erkennen. Die Beleuchtung war erloschen, doch durch die Fenster kam genügend Licht herein, um einen mehr sehen zu lassen als einem lieb war.
Die Passagiere lagen im Korridor oder auf den Sitzen verstreut. Kaum einer von ihnen schien rechtzeitig den Gurt geschlossen oder die Sicherheitsposition eingenommen zu haben. Keiner von ihnen rührte sich. Sie waren aller Wahrscheinlichkeit nach alle tot.
Und was sollte er jetzt tun?
Sie alle untersuchen? Erste Hilfe leisten, falls einer noch atmete? Die Polizei verständigen, den Notarztwagen, die Feuerwehr? 110 und 112?
Zuerst musste er die Maschine auf dem schnellsten Weg verlassen. Dass der Tank auf wundersame Weise unbeschädigt geblieben und kein Feuer ausgebrochen war, hatte ihm das Leben gerettet. Aber niemand garantierte ihm, dass dies so blieb. Jeden Augenblick konnte eine irgendwo im Inneren des Stahlvogels eine Reaktion beginnen, die das Flugzeug in einem Feuerball verglühen ließ, und kein Mensch würde je erfahren, dass ein alternder Geisteswissenschaftler aus Heidelberg das Glück gehabt hatte, die anderen um einige Minuten zu überleben.
Wie kam man hier heraus? Falls die Türen nicht deformiert waren und er nicht zu verwirrt, um die Anweisungen zu lesen, hatte er eine Chance. Vorher musste er noch über die Menschen steigen, die im Gang lagen. Davor graute es ihm. Er machte einen vorsichtigen Schritt über einen jungen Mann hinweg und trat ihm dabei auf die Finger. Schlier war durcheinander genug, um ein hastiges „Entschuldigung“ zu murmeln. Der Getretene beschwerte sich nicht.
Ein dicker Mann im dunklen Anzug lag in anatomisch unmöglicher Stellung zwischen den Sitzreihen, den Kopf auf der einen, die Beine auf der anderen Seite. Es brauchte mehrere Versuche, um dieses Hindernis zu passieren. Mehrmals kam Schlier mit den Toten in Berührung, und immer weniger machte es ihm aus. Auch mit dem glitschigen Gefühl unter den Fußsohlen, wenn er in eine frische Blutlache trat, kam er leidlich gut zurecht. Allerdings setzte er alles daran, den Menschen nicht in die Gesichter zu sehen. Er hatte sie am Gate gesehen, beim Einsteigen, während des Fluges, oberflächlich zwar, aber die Erinnerung war noch frisch. Er wollte, dass die Gesichter als die Gesichter lebendiger Menschen in seiner Erinnerung verblassten, nicht als die von Toten in seine Albträume eingingen. Es tröstete ihn ein wenig, dass er keine Kinder an Bord gesehen hatte.
Ehe er die Tür erreichen konnte, blitzte vor ihm etwas auf. Unwillkürlich duckte er sich, weil er eine Explosion erwartete. Doch der Blitz gehörte zu einem goldfarbenen Kleiderknopf, auf den von draußen ein Strahl Sonnenlicht fiel. Auf dem Sitz neben der Tür saß die jüngere der beiden Stewardessen und
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