Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia
Predigten gehört hatte. Jeder Mensch interpretierte so etwas im Nachhinein anders.
„Aber du warst dabei. Und du hast uns nicht abgehalten.“ Harald Stimme hatte etwas Unerbittliches an sich. Jetzt, wo sie so weit von den anderen entfernt waren, stieg die Spannung zwischen ihnen.
Johannes blieb weiter stumm.
„Schauen wir’s uns an, bevor es wirklich zu regnen anfängt. Komm schon, Kopf hoch!“
Karla und Harald trieben Johannes vor sich her, was er sich gefallen ließ, und sie hatten die Senke bald erreicht. Die Röhre war noch da. Niemand hatte sie abtransportiert. Wozu auch? Sie war vollkommen ungefährlich – jeder Baum stellte ein größeres Risiko für die Spaziergänger dar, die sich hierher verirrten.
Das Objekt bestand aus vier je zwei Meter langen, ineinander gesteckten Betonröhrenteilen, wie sie in der Kanalisation zum Einsatz kamen. Ihr Durchmesser von etwa 60 Zentimetern reichte aus, um einen erwachsenen, nicht zu korpulenten Menschen hindurchkriechen zu lassen. Die Röhren lagen nicht ganz waagrecht. Im Laufe der Jahre hatte der Regen eine Menge Erde hindurchgespült, die sich am tiefer liegenden Ende angesammelt hatte. Die ehemals helle Farbe des Betons war durch Wind und Wetter dunkel geworden. Moos wuchs auf der Oberfläche. Wenn man sich von der Seite dagegen lehnte, konnte man die Röhre um ein paar Zentimeter zur Seite bewegen, und sobald man das tat, stoben darunter Scharen von Asseln und Ohrwürmern hervor. Heute war es keinem von ihnen danach zumute, so etwas zu tun. Sie alle hielten respektvoll Abstand.
„Es ist lächerlich kurz“, sagte Karla. „Absolut lächerlich kurz.“
Johannes drehte sich ruckartig um, als hätte er etwas gehört, aber als die anderen ihn fragend ansahen, schüttelte er schweigend den Kopf und sah betreten zur Seite.
Harald ging in einigem Abstand um die Röhre herum, ohne dabei ein einziges Mal den Blick von ihr zu nehmen. Am tieferen der beiden Ausgänge blieb er stehen und spähte ins Innere. „Saubergewaschen vom Regen“, kommentierte er.
„Damals war sie auch sauber“, bemerkte Karla. „Als Tim rauskam, sah er aus, als wäre er nie drin gewesen. Abgesehen von seinem Gesicht, meine ich.“
„Was genau tun wir hier?“, wollte Johannes wissen. „Erinnerungen aufwärmen?“
„Vielleicht können wir Erinnerungen begraben“, entgegnete Harald.
„Begraben?“ Das Wort gefiel ihm nicht, man sah es ihm an. Aus dem Zusammenhang gerissen, war es einfach nur ein Wort, aber ein hässliches. Begraben.
Harald ging vor der Röhre in die Hocke, senkte den Kopf, sah hindurch. „Ich dachte, wir könnten etwas zu Ende bringen, was wir letztes Jahr nur angefangen haben.“
Johannes wirkte alarmiert. Er sah zu Karla hinüber, die sich abwandte. „Wovon redest du? Da gibt es nichts zu Ende zu bringen!“ Am Ende des Satzes klang seine Stimme belegt, und er hustete.
Harald grinste schon wieder, ohne dass seine Augen mitlachten. „Bist du sicher? Keine Panik, denk einfach mal nach, ja? Weswegen waren wir hier? Weißt du das noch?“
[um-mich] [um-mich-fertigzumachen] [sehr-einfache-frage] [weiter]
„Um …“ Johannes konzentrierte sich. Es war ihm, als rede ihm jemand dazwischen, als denke ihm jemand dazwischen, falls es so etwas gab.
[ein-bisschen-spass-mit-tim-zu-haben]
„Um Tim in unseren Freundeskreis aufzunehmen.“ Johannes brachte es hervor, und als er es gesagt hatte, fand er, dass es klang wie die Wahrheit. Es war die Wahrheit.
„Richtig, Jo! Mein Gott, was haben wir ihn gehänselt, in der Schule, wegen seiner vielen Macken. Er hatte es wirklich nicht leicht mit uns.“ Harald hob die Augenbrauen. „Einmal … einmal steckten wir ihn in die Besenkammer. Und wie oft haben wir ihm beim Sch… zugesehen, weil er es einfach nicht fertig brachte, die Tür der Kabine abzuschließen! Keine leichte Jugend für Tim. Aber an diesem Tag, an diesem Tag sollte er einer von uns werden. Wir waren allmählich alt genug, um endlich Schluss mit den dummen Spielchen zu machen. So war es doch, oder? Jo? Karla?“
Karla nickte, aber sie nickte mehr in sich hinein, privat, für sich alleine.
„Ja, ich glaube, wir haben es ernst gemeint“, sagte Johannes unsicher.
„Natürlich haben wir es ernst gemeint! Hätten wir es nicht ernst gemeint, dann wäre es vermutlich der schlimmste Streich gewesen, den wir ihm je gespielt haben. So aber haben wir ihm die Hand gereicht. Er musste nur zugreifen.“
[danke-harald-danke-du-bist-großzügig]
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