Melina und die vergessene Magie
Macht erreichen können? Aber ich habe
Jahre
dafür gebraucht …«
»
Du?
Du bist ein Mensch?«, fragte Melina verblüfft. Morzena nickte, und die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich.
»Vor zehn Jahren hat Salius mich hierhergeholt. Er hat damals versucht, mit seinen Toren neue Welten zu erschließen.« Sie lachte freudlos auf. »Wahrscheinlich ist er der Einzige, der Tore öffnen kann wie andere Magier Schuhschränke. Nun, was auch immer er gesucht haben mag: Er fand mich. Als er begriff, dass ich zum Zaubern keine Magiekugeln brauchte, nahm er mich in die Lehre. Salius sagt, dass wir Menschen eine natürliche Begabung für Magie haben – obwohl sie in unserer Welt verloren gegangen ist. Sie entsteht durch Fantasie, und hier in diesem Land verfügen nur wenige Wesen darüber. Salius braucht mich, um seinen Traum zu verwirklichen, diese Welt komplett zu verwandeln.«
Inzwischen lag Stolz in ihrer Stimme. Melina spürte, dass Morzena froh war, diese Geschichte einmal jemandem erzählen zu können, der sie verstand – einem Menschen.
»Erst als ich ihn mit meinen Fähigkeiten übertrumpfte – ihn, einen Großmeister! –, da begann er mich zu fürchten. Seitdem belauern wir uns gegenseitig wie Raubkatzen vor einem Stück Fleisch. Vermutlich bedauert er es inzwischen, dass er die Zauberer
meinem
Befehl unterstellt hat. Pech, Salius! Heute bin
ich
die Herrin des Feuers!«
»Aber was bringt dir diese schreckliche Verwandlung?«, warf Melina ein. »Willst du wirklich als Mensch in einem Land des Feuers leben?«
Morzenas Lächeln verzog sich zu einem höhnischen Grinsen.
»Wer sagt, dass ich hier leben muss? Dieses Land zu unterwerfen ist nur der erste Schritt. Nach dieser Nacht wird niemand mehr einen freien Willen haben – außer Salius und mir. Er mag dann in diesem Land aus Feuer und Asche bleiben, wenn er will. Ich werde eine Armee von Feuerzauberern in die Welt der Menschen führen. Sie sollen büßen für das, was sie mir angetan haben.«
»Was kann so schrecklich sein?«, rutschte es Melina heraus.
Morzena fuhr zu ihr herum und funkelte sie böse an.
»Natürlich kannst du das nicht verstehen! Bestimmt hast du Eltern, die dich lieben und die niemals auf die Idee kämen, dir zu sagen, dass du nichts taugst. Dass du nicht halb so viel wert bist wie dein Bruder. Dass du nicht einmal Freunde hast.«
Melina schwieg.
»Und bestimmt bist du eine von
ihnen
! Du bist gut in der Schule, ziehst mit einer Clique von kichernden Mädchen durch die Gegend und wirst von deinen Eltern verhätschelt und mit Spielzeug überhäuft.«
»Ach, echt?«, stöhnte Melina jetzt. »Als das Tor nach Lamunee sich öffnete, saß ich gerade in einem stockdunklen Schulkeller, weil ein Mädchen aus meiner Klasse mich dort eingesperrt hatte.«
Morzena wirkte immerhin verblüfft. Einen Moment lang stellte sich Melina vor, was Morzena wohl mit dieser kleinen Kröte Lisa angestellt hätte, wenn ihr in ihrer Welt Magie zur Verfügung gestanden hätte. Melina wurde klar, dass das der Unterschied zwischen ihnen beiden war. Selbst wenn sie die Macht dazu hätte, würde sie Lisa niemals mit einem Feuerblitz in ein Häufchen Asche verwandeln. Auch wenn die Vorstellung noch so reizvoll war.
Auf einmal stand Morzena ganz dicht vor ihr.
»In einem Schulkeller, sagst du? In einem Abstellraum mit Karten, ausgestopften Tieren und so einer komischen Stehlampe mit einem röhrenden Hirsch drauf?«
»Äh … hm … ja«, stotterte Melina, während ihr Gehirn nur noch Fragezeichen malte. Woher kannte Morzena diesen Raum?
»Und dann öffnete sich ein Fenster ins Licht …«
Melinas Fragezeichen verwandelten sich in ein Bild. »
Du
bist das verschwundene Mädchen«, stellte sie verblüfft fest.
»Das
war
ich, als ich noch Rebekka hieß«, nickte die Zauberin. »Als ich noch nicht die Macht hatte, mich gegen all die Ungerechtigkeit zu wehren.«
Wieder waren es die Augen eines verletzlichen Mädchens, die Melina aus dem hübschen Frauengesicht anstarrten.
»Weißt du, dass ich immer Angst davor hatte, dass Salius noch andere Menschen hierherholt? Deshalb habe ich ihn gebeten, das Tor für immer zu schließen und eine Bestie zu schaffen, die es bemerkt, wenn jemand durch die Zwischenwelt herkommt. Er hat mir alles versprochen und mir die Schattenkatze geschenkt.«
Melina schluckte. Wie konnte sie so grausam sein – nur weil sie glaubte, nicht gerecht behandelt worden zu sein? Aber Melina wusste, dass Morzena in ihrem ewigen Misstrauen zu
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