Melmoth der Wanderer
bösen Eigenschaften oder Gewohnheiten des Betreffenden es gewesen waren, welche das düstere, makabre Interesse an der genauen Stunde seines Todes geweckt hatten.
Deshalb wurde es als schlimmes Vorzeichen für des späten Melmoths Seelenheil gedeutet, daß jene unheimliche Person – wenn auch vielleicht nur vermeintlich – noch vor dessen Tod im Hause erschienen war.
So also hatte Biddy Brannigan berichtet, und dann noch ihre eigene, feierlich bekundete Vermutung hinzugesetzt, daß John Melmoth, der Reisende, auch jetzt noch so aussehe wie damals, daß kein Haar auf seinem Haupt, keine Faser an seinem Körper sich verändert habe. Und sie fuhr fort, daß sie mit all denen gesprochen hätte, welche ihn erblickt, und daß sie, sollte es sich als nötig erweisen, deren Zeugenschaft mit einem Eid bekräftigen könnte. Nämlich, man habe jenen Reisenden niemals ein Wort sprechen hören, niemals Nahrung zu sich nehmen oder irgendeine Wohnstatt betreten sehen, sie hätte denn einem aus der Familie gehört. Und schließlich, das sei ihr fester Glaube, könne dies jüngste Auftreten nichts Gutes bedeuten: weder für die Lebenden noch für die Toten.
John brütete noch immer über diesen Dingen, als die Kerzen gebracht wurden, betrat jedoch, ungeachtet der bleichen Miene und des warnenden Geraunes aller Anwesenden, voll Entschlossenheit das Kabinett, drückte die Tür hinter sich zu und machte sich an die Suche nach dem bewußten Manuskript. Er hatte es alsbald gefunden, da ja die Anweisungen des alten Melmoth, bei klarem Gedächtnis niedergeschrieben, an Bestimmtheit nichts zu wünschen übrigließen. Das Manuskript fand sich in eben jener von dem Oheim bezeichneten Schublade, und des jungen Melmoths Hände fühlten sich nicht weniger kalt an als jene des Toten, als sie die Blätter aus ihrem Versteck hervorzogen. John setzte sich, um die Aufzeichnungen zu lesen. Im ganzen Haus war es totenstill. Gedankenverloren blickte er in die Kerzenflammen und schneuzte schließlich die Dochte, doch ihr Licht dünkte ihn noch immer düster genug. (Er mochte wohl auch denken, sie brennten gar zu geisterhaft, unterdrückte jedoch den Gedanken sofort.) Sicher ist nur, daß er seine Haltung mehrmals wechselte, wie er wohl auch den Stuhl gewechselt hätte, wäre nicht nur dieser eine dagewesen.
DRITTES KAPITEL
Apparebat eidolon senex. [1]
Plinius
Das Manuskript war vergilbt, seine Schrift am Verlöschen, kurz, es war in einem Grade verstümmelt, wie er wohl kaum jemals die Geduld eines Lesers auf die Probe gestellt hat. Selbst Michael kann bei der Prüfung des vorgeblich echten Markus-Evangeliums in Venedig keine schwerere Mühe gehabt haben. – Melmoth vermochte nur hin und wieder einen Satz zu entziffern. Allem Anschein nach war der Schreiber jener Seiten ein Engländer namens Stanton gewesen, welcher bald nach der Restauration das Ausland bereist hatte und um das Jahr 1676 nach Spanien gelangt war. Er war, wie der Großteil aller Reisenden jener Zeit, ein Mann von Verstand und Wißbegier, welcher die Feder wohl zu führen vermochte, war aber, der Landessprache unkundig, gehalten, sich auf seinem Weg von einem Kloster zum anderen zu mühen, auf der Suche nach dem, was man damals »Hospitalität« nannte, worunter Kost und Quartier im Austausch gegen eine lateinisch geführte Disputation über ein Thema der Gottesgelehrtheit oder der Metaphysik zu verstehen sind. Dabei trug dann gewöhnlich irgend einer der Mönche den Sieg davon. Obschon aber die hochwürdigen Gegenredner Stantons Glauben beständig herabsetzten und noch in ihrer Niederlage Trost fanden, indem sie versicherten, ihr Widerpart sei ohnehin der Ewigen Verdammnis verfallen, da er nicht nur ein Ketzer, sondern überdies auch noch Engländer sei, mußten sie doch sein Latein als ein vorzügliches und seine Argumentation als unwiderleglich anerkennen. So ward ihm denn in den meisten Fällen gestattet, sein Abendbrot in Frieden zu verzehren und danach die Nacht in dem Kloster zu verbringen. Nicht so war ihm dies in der Nacht des 17. August 1677 beschieden, als er sich in der Ebene von Valencia plötzlich allein fand, verlassen von einem hasenherzigen Führer, welcher, durch ein zum Gedenken an einen Mord errichtetes Kreuz erschreckt, heimlich sein Maultier losgebunden und sich unter beständigem Bekreuzen vor dem Ketzer aus dem Staube gemacht hatte, Stanton inmitten der Schrecknisse eines heraufziehenden Gewitters und der Gefahren eines unbekannten Landes sich selbst
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