Melmoth der Wanderer
unter ehrerbietigem und katzbuckelndem Gehaben an der Tür inne, wobei sie irgendwelches Zeug murmelte, was wohl als Segenswunsch gemeint sein mochte, indes bei solch heiserer Stimme und hexenhaftem Aussehen weit eher einer Verwünschung gleichkam. Sobald sie aber die Frage nach jener Geschichte vernommen, ward sie sich sogleich der eigenen Wichtigkeit bewußt. Sie trat bedächtig in das Zimmer, setzte sich auf den Herdstein – oder kauerte sich vielmehr gleich einer Häsin breit darauf hin –, spreizte die knochigen, welken Finger gegen die Glut und wiegte den Körper eine endlose Weile hin und her, bevor sie mit ihrer Geschichte begann. Sobald sie damit zu Rande gekommen, sah Melmoth sich voll Staunen abermals in jenen Geisteszustand versetzt, darein die kürzlich vorgefallenen, einzigartigen Ereignisse ihn gestürzt, denn er ertappte sich dabei, daß er mit wechselnder, zunehmend hingerissener Spannung und Neugier sowie mit einer Art Schrecken einer Erzählung lauschte, welche so abenteuerlich, so wenig wahrscheinlich, um nicht zu sagen unglaublich klang, daß ihm zuletzt wegen seiner nicht zu bemeisternden Torheit die Schamröte aufstieg. All diese Eindrücke mündeten in den Entschluß, noch in der nämlichen Nacht dem Kabinett einen Besuch abzustatten und jenes Manuskript vorzunehmen.
Es erwies sich jedoch als unmöglich, diesen Entschluß sogleich in die Tat umzusetzen, denn auf Johns Rufen nach neuen Lichtern bekannte die Haushälterin, daß auch die allerletzte Kerze für Seiner seligen Gnaden Totenwache aufgegangen sei. Also ward ein barfüßiger Knabe – rasch, nur rasch, als gälte es das Leben – ins Nachbardorf gejagt, um dort neue Kerzen zu besorgen, und Melmoth war in dem einfallenden Abend sich selbst überlassen. Und so wiederholte er sich Wort für Wort die Erzählung der alten Hexe, ganz in der Art eines Mannes, welcher ein Beweisstück von allen Seiten untersucht und mit sich selbst ein wahres Kreuzverhör anstellt, nur darauf aus, sich zu widerlegen.
Der früheste Melmoth, so hatte sie gesagt, jener, der in Irland ansässig geworden, war Offizier in Cromwells Heer gewesen und hatte Grund und Boden aus dem Besitz einer königstreuen irischen Familie zugewiesen erhalten. Sein älterer Bruder, ein weitgereister Mann, hatte sich so lange Zeit auf dem Kontinent herumgetrieben, daß sich in der Familie niemand mehr seiner entsann. Auch wurde solches Gedenken durch keinerlei Gefühl der Zuneigung unterstützt, zumal recht sonderbare Gerüchte über den Verreisten im Umlauf waren. Man sagte ihm nämlich nach, er sei »ein Kavalier, welcher aus mancherlei absonderlichen, geheimen Dingen seinen Nutzen ziehe«. Es wurde auch erzählt, der seltsame Reisende hätte damals jenem alten Melmoth noch zu dessen Lebzeiten einen Besuch abgestattet. Aber obzwar der Ankömmling schon reichlich bejahrt hätte aussehen müssen, wäre ihm zur größten Verwunderung der Familie keinerlei Veränderung anzumerken gewesen, und hätte er um nichts älter gewirkt als an dem Tage, da man ihm Valet gesagt. Sein Besuch, so hieß es, wäre nur von kurzer Dauer gewesen, und der seltsame Gast hätte weder über Vergangenes noch auch Künftiges etwas verlauten lassen. Weiter wurde erzählt, keiner hätte sich in seiner Gegenwart so recht behaglich gefühlt. Bei seiner Abreise hätte er ein Bild zurückgelassen (eben jenes 1646 datierte, das John in dem Kabinett vorgefunden hatte), und wäre dann auf Nimmerwiedersehen davongegangen. Mehrere Jahre danach sei dann eines Tages ein Mann aus England herübergekommen, welcher, in Verfolgung des Reisenden, Melmoths Haus aufgesucht und dabei die unglaublichste, kaum zu stillende Wißbegier an den Tag gelegt habe, irgendwelche Kunde über den Verschwundenen zu erlangen. Doch konnte ihm die Familie keinerlei Auskunft geben, so daß der Besucher nach mehreren Tagen unablässigen Fragens und Vermutens sich wieder verabschiedete, wobei er, versehentlich oder absichtsvoll, ein Manuskript liegen ließ, worin die außerordentlichen Umstände geschildert waren, unter welchen der Frager John Melmoth, den Reisenden (wie er genannt wurde), kennengelernt hatte.
Manuskript wie Porträt waren aufbewahrt worden, und über beider Urbild wurde erzählt, es befände sich wie eh und je am Leben und sei in Irland wiederholt aufgetaucht, auch noch in diesem Jahrhundert – nur habe sein Erscheinen jedesmal mit dem bevorstehenden Tod eines Familienmitgliedes zu tun gehabt, doch auch dies nur dann, wenn die
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