Melmoth der Wanderer
überlassend.
Die wunderbaren Überreste zweier längst verschollener Beherrscher dieses Landes, nämlich die römischen Palastruinen und die maurischen Festen, umgaben Stanton von allen Seiten, und die schwere Düsternis der Gewitterwolken erschien ihm nun wie das Leichentuch jener gespenstischen vergangenen Größe. Und dort drüben, weit hinaus sich erstreckend, breitete sich das anmutige Tal von Valencia in der brennenden Röte eines gloriosen Sonnenuntergangs, breitete sich wie eine Braut, welche unterm letzten brennenden Kusse des Bräutigams erglüht, ehe die Nacht endgültig hereinbricht.
Doch alsbald wurden dem Schauenden all die vermeintlich begrenzten, läßlichen Gefahren, zu welchen seine Schwärmerei sie verkleinert hatte, aufs neue zur Bedrohung, denn jetzt zuckte der erste Blitz hernieder und fuhr krachend in die Reste eines römischen Turmes, schlug sie zu Stücken, so daß die steinernen Trümmer splitternd den Hang hinabkollerten und erst zu Stantons Füßen liegenblieben. Das Entsetzen verschlug ihm den Atem, er stand wie erstarrt, einzig den Urteilsspruch jener Macht erwartend, unter deren Blick Pyramiden wie Paläste, und auch das Gewürm, dessen Mühsal sie erst erschaffen, und auch jenes, das aus dem Geschaffnen, unter dessen Schutz oder dessen Druck, nicht minder mühselig sein Leben fristet – unter deren Blick, dem all dieses gleich gering und verächtlich erscheint, stand jetzt auch er, gefaßt und einen Atemzug lang in sich jenes Gefühl der Herausforderung verspürend, durch welches die Gefahr erst so recht hervorgerufen wird, jene Gefahr, welcher wir gern wie einem körperlichen Feinde entgegentreten, bittend, sie möge »uns das Ärgste antun«; jedoch im Aussprechen solcher Bitte schon wissend, daß dies Ärgste im letzten für uns auch das Beste sei.
Solchen Überlegungen hing Stanton nach, als sein Gedankengang urplötzlich unterbrochen wurde durch den Auftritt zweier Gestalten, welche zwischen sich den Körper eines jungen, augenscheinlich sehr hübschen Mädchens trugen, das von dem Blitz erschlagen worden war. Sich der Gruppe nähernd, hörte Stanton die Träger wiederholt ausrufen: »Und keiner da, der sie beklagen wird!«
»Und keiner da, der sie beklagen wird!« ertönte es wie ein Echo, als zwei weitere Träger auftauchten, welche den schwärzlich angesengten Körper dessen trugen, was bisher ein Mann gewesen, jung und schön und anmutsvoll im Leben. – »Kein einziger ist da, das Mädchen zu beklagen!« Denn es waren Liebende gewesen, und auch der Jüngling war von dem himmlischen Feuer, welchem die Jungfrau erlegen, verzehrt worden, als er sich demselben entgegengeworfen hatte.
Schon war man im Begriff, die Leichen fortzutragen, als eine weitere Person mit so sicherem Schritt und so kalter Ruhe auftrat, als kennte er keinerlei Gefahr und wäre nicht fähig, Furcht zu empfinden. Und nachdem der Ankömmling die Versammelten eine Zeitlang gemustert hatte, schlug er ein so lautes, unbändiges und lang anhaltendes Gelächter an, daß die verängstigten Bauern, von ihm nicht minder verstört als von dem Getöse des Unwetters, Hals über Kopf verschwanden, freilich nicht ohne die beiden Leichname mit sich zu nehmen. Stanton war in einem Maß erstaunt, daß er darüber sogar seiner Furcht vergaß. Er wandte sich dem Fremden zu, welcher auf seinem Standort verharrte, und fragte ihn nach dem Beweggrund seiner Unmenschlichkeit. Der Angeredete, den Frager langsam ins Auge fassend, trug indes eine Miene zur Schau, welche ... (Hier folgten in dem Manuskript mehrere unleserliche Zeilen), sagte in englischer Sprache ... (Eine große Lücke klaffte an dieser Stelle, und obschon die nächste leserliche Passage an die bisherige Erzählung anzuknüpfen schien, blieb sie doch fragmentarisch.)
... ersten Häuser von Valencia. Stanton klopfte aufs Geratewohl an die Tür eines stattlichen doch alten Hauses. Die Greisin, die ihm auf tat, beäugte ihn voller Mißtrauen und schien erschrocken, als er sich als Engländer zu erkennen gab. Doch nach einigem Bedenken gewährte sie ihm das erbetene Quartier für die stürmische Nacht.
Der einzige Laut in dem Hause rührte von Stantons und seiner gebrechlichen Führerin Schritten her und wurde nur unterbrochen von dem noch immer drohenden, wenngleich schon entfernteren Donnergrollen des abziehenden Gewitters – und jedes ferne Grollen klang wie das dumpfe Gemurmel, welches aus einem zu Tode erschöpften Herzen kommt. Während aber die beiden
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