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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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erstrahlte, da Isidora sich an die Fensterbrüstung lehnte, so hell wie dies in den kälteren Breiten die Sonne tut, und der ganze Himmel schien von diesem Schein zu brennen. Und jener Mond zog dahin wie ein kühnes Schiff, welches mutterseelenallein den spiegelglatten, schimmernden Ozean durchpflügt, während tausend Sterne rings in ihrem stillen Glanz erstrahlten, den Positionslaternen begleitender Schiffe vergleichbar, die Kurs genommen haben auf unentdeckte, ferne Welten, dieselben dem sterblichen Auge weisend mit jenen Lichtern, die es liebte.
    Solcherart bot sich die Szenerie des Himmels dar, allein, in welchem Kontrast stand sie zu jener der tieferen Regionen! Das gloriose, unbegrenzte Licht fiel ja auf die enge Begrenzung aus Myrthensträuchern, welche zu künstlichster Starre zurechtgestutzt waren, es fiel auf die in Kübeln gezogenen Orangenbäume, es fiel auf rechtwinklig angelegte Teiche und auf das Lattenwerk der Pavillons, und es fiel auf all die weiteren tausend Kunstkniffe, mit welchen man der Natur jene Gewalt angetan, der sie sich allerorten nur widerwillig zu fügen, ja der sie sich zu widersetzen schien.
    Isidora aber blickte auf all dies hinunter und weinte. Die Tränen waren ihr ja in den Stunden des Alleinseins recht eigentlich zur Sprache geworden – zu jener Sprache, welche sie in Gegenwart der Familie nicht zu gebrauchen wagte. Und da sie so stumm vor sich hinweinte, gewahrte unsere Dulderin mit einem Mal, wie einer der mondbeglänzten Gartenpfade verdunkelt wurde durch den Schatten einer sich nahenden Gestalt. Alsbald hörte Isidora sich beim Namen gerufen, bei jenem Namen, dessen sie so gern gedachte und den sie so sehr liebte: beim Namen Immalee! ›Oh!‹ rief sie aus, indem sie sich aus dem Fenster beugte, ›so gibt’s hier einen Menschen, welcher mich unter diesem Namen kennt?‹
    ›Ich kann dich mit keinem anderen ansprechen‹, kam es mit der Stimme des Fremden zurück, ›weil mir noch nicht die Ehre zuteil geworden, mit jenem vertraut zu sein, welchen deine Christenfreunde dir gegeben.‹
    ›Sie nennen mich Isidora, du aber sollst mich weiterhin Immalee rufen. Wie aber kommt’s‹, so fuhr sie mit bebender Stimme fort, während die Angst um seine Sicherheit jenes plötzliche und unschuldige Entzücken in ihr überwältigte, welches sie bei des Fremden Anblick empfunden, ›wie kommt’s, daß du jetzt hier bist? – Hier, wo bis auf die Bewohner dieses Landsitzes keine Menschenseele je erblickt wurde? – Wie bist du über die Gartenmauer gelangt? – Auf welche Weise vom fernen Indien hierhergekommen? So geh, ach geh doch fort, um deiner Sicherheit willen! Ich bin hier unter Menschen, denen ich nicht trauen und die ich nimmermehr lieben kann! Meine Mutter ist hart, mein Bruder heftig. Wie hast du es nur bewerkstelligt, in diesen Garten einzudringen? – Und wie kommt’s‹, so setzte sie mit versagender Stimme hinzu ›daß du solch großes Wagnis auf dich nimmst, bloß um eine wiederzusehen, welche du so lange Zeit vergessen hast?‹
    ›Du holde Neophytin, schöne Christin‹, sprach diabolisch grinsend da der Fremde, ›so sei dir kundgetan, daß Mauern, Gitter, daß Tür und Riegel mich so wenig hindern wie es die Brecher und die Felsen taten auf jener fernen Insel. Daß ich kommen und gehen kann, wann’s mir beliebt und wo! Was scheren mich die Hunde deines Bruders, was deines Bruders Toledanerklingen, die Pulverschüsse, die von selbst sich lösen, was können sie mir tun? Und jene Garde bebrillter Anstandsdamen, die die Mutter um dich versammelt hat, all die Duennas mit ihren scharfgeladenen Rosenkränzen, in deren Kugelregen selbst der ...‹
    ›Schsst! – So schweig doch! – Sprich nicht so lästerlich! – Man hat mich ja gelehrt, all diese heiligen Dinge zu verehren. Sag mir lieber, ob du es wirklich bist? – Und warst es wirklich du, den gestern abend ich erblickte? War es nicht bloß einer der Gedanken, wie sie bisweilen mich im Traum besuchen, um mich aufs neue zu umgaukeln mit den Visionen jenes wunderbaren, gelobten Eilands, wo zum ersten Mal ... Oh, hätte ich dich doch nimmermehr gesehen!‹
    ›Du holdes Christenmädchen, nimm auf dich dein fürchterliches Los und hör mich an: kein anderer als ich ist es gewesen, der gestern zweimal deinen Pfad gekreuzt, dieweil so glänzend du dahingewandelt als Schönste aller Schönen von Madrid. Ich bin’s gewesen, welcher deinen Blick auf sich gezogen hat – wie mein Blick es war, der deine Zartheit wie ein

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