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Melville

Melville

Titel: Melville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Elter
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nicht einmal sicher, ob ich es bereue. Mein Bruder…
    Immer
wieder fällt mein Blick auf den Briefumschlag und auch auf das
Ticket, das hervorlugt. Ein Flug in der Economy Class von einem
Billiganbieter. Warum diese Eile und warum so dringlich, dass ich
gleich einen festen Flug erhalte? Diese Nachricht wirft mich und
meine Pläne aus der Bahn, aber ich werde ganz sicher nicht einfach
zu ihm fliegen. Mal abgesehen davon, dass die Uhrzeit des Fluges mir
dies verbietet. Aber es scheint ihm wirklich ernst zu sein.

    Ich
erhebe mich, nehme den Umschlag und gehe in mein Arbeitszimmer. Ich
werde es jetzt direkt klären, egal wie spät es ist.
    Ich
setze mich an meinen Schreibtisch und schalte den Computer ein. Es
würde mich wundern, wenn man nicht mit ein wenig Internetrecherche
die Telefonnummer meines Bruders herausbekommen könnte. Also gebe
ich die besagte Adresse ein und auch seinen Namen und sofort werden
mir diverse Personensuchmaschinen angeboten, in denen seine Daten
geführt werden.
    Ich
klicke auf den ersten Link und gleich fällt mir ein Foto auf, es ist
nicht besonders groß, aber es zeigt ihn, da bin ich mir ganz sicher.
Er sieht alt aus, irgendwie verbraucht. Und obwohl es mir eigentlich
unbegreiflich ist, frage ich mich, wie es ihm wohl in den letzten
Jahren erging.
    Ich
durchsuche die Seite nach einer Telefonnummer und tatsächlich findet
sich eine glaubwürdig erscheinende Angabe. Ich greife zu meinem
Handy, unterdrücke die Anzeige meiner eigenen Nummer und rufe ihn
an. Was will ich ihm überhaupt sagen? Ich bin mir nicht sicher.
    Es
klingelt, minutenlang, eine Ewigkeit, doch ich lege nicht auf. Nach
sicher fünf Minuten hebt jemand ab und ich erkenne seine Stimme
wieder.
    „Welches
Arschloch nervt hier?“, fragt er in seiner charmanten Art.
    „Hier
ist Melville.“, sage ich nur und warte ab, wie er darauf reagiert.
Eine kurze Pause, dann sagt er
    „Hmm,
ich denke mal, du hast meine Nachricht erhalten.“.
    „Ja,
das habe ich. Und ich frage mich, warum?“. Wieviele Jahre sind es
jetzt schon, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Vierzehn,
vielleicht fünfzehn Jahre?
    „Komm
schon, kleiner Bruder, ist es ungewöhnlich, wenn man mal wieder
seine Familie sehen will?“.
    „In
unserer Familie, ja.“, antworte ich nur trocken. Er antwortet nicht
gleich, scheint überlegen zu müssen.
    „Hör
mal, ich will dich einfach nur noch Mal sehen, okay?“.
    „Ich
habe keine Zeit, Jonathan, sag mir doch einfach, worum es geht.“.
    „Du
machst es einem wirklich nicht leicht…“.
    „Und
warum gleich dieses Flugticket, fühlt sich fast schon ein wenig
erpresserisch an, wenn du mich fragst.“. Ich höre ihn auf der
anderen Seite der Leitung seufzen.
    „Niemand
will dich erpressen, du paranoider Freak. Es ist einfach…“ und
wieder redet er nicht zu Ende.
    „Was,
Jonathan? Was?“, frage ich genervter.
    „Es
geht mir nicht besonders und ich wollte einfach nur noch mal… bevor
es nicht mehr geht…“. Er will mir doch nicht sagen, dass er im
Sterben liegt, oder?
    „Was
denn? Hast du Krebs?“, frage ich provozierend und könnte mir
direkt auf die Zunge beißen, als er antwortet
    „Ja.“.
Diesmal bin ich derjenige, der sich sammeln muss.
    „Hör
zu, es tut mir leid. Ich wusste nicht…“. Ich entschuldige mich,
eine Aussage die mir in den letzten Monaten nicht von den Lippen kam.
    „Schon
gut, wirst du kommen?“.
    „Hast
du noch andere eingeladen? Ich habe keine Lust auf ein großes
Familientreffen.“.
    „Wer
sollte denn da kommen, hä? Sind doch nur noch wir beide.“. Ja, wir
beide.
    „Ich
werde etwas später eintreffen, sagen wir…“ und ich überschlage
schnell, wie viel Zeit ich benötigen würde.
    „… gegen
ein Uhr?“.
    „Nachts?“,
fragt er ungläubig.
    „Ja,
ich weiß, aber anders wird es nicht gehen.“.
    „Puh,
dann werde ich halt ein Nickerchen vorher machen. Als würde ich das
nicht eh schon die ganze Zeit tun. Diese verdammten Medikamente.“.
Menschliche Probleme, die ich für immer fern von mir gedacht habe.
Krankheit, älter werden, sterben…
    „Gut,
Jonathan. Bis in drei Nächten dann.“.
    „Danke,
Melville. Ich weiß, dass es dir sicher nicht leicht fällt, aber du
weißt, wenn es nicht stimmen würde, würde ich dich nicht
belästigen.“.
    „Ich
weiß, Jonathan, ich weiß.“.
    „Bis
dann, ich freu mich.“.
    „Bis
dann.“. Ich lege auf und betrachte noch eine Weile mein schwarzes
Display. Und zwangsläufig muss ich an ihn denken, an

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