Melville
unsere
gemeinsame Kindheit, doch leider kommen damit auch die schlechten
Gefühle wieder hoch. Mein Hass dafür, dass Vater ihn nicht
misshandelte, ihn ständig bevorzugte. Wie er nicht in der Lage war,
mir zu helfen, bis ich mir endlich selbst helfen konnte. Doch da
waren auch die anderen Momente. Wenn wir lachten und spielten, er mir
nachts Gruselgeschichten vorlas, heimlich mit der Taschenlampe unter
meiner Decke, weil Vater es eigentlich nicht erlaubte, so lange wach
zu bleiben. Wie er versucht hat, mir das Fahrradfahren beizubringen,
ich nach dem fünften Sturz aber verzweifelt aufgab. Ich lege das
Handy auf den Schreibtisch. Diese Nacht begann schockierend und endet
in einem Gefühlschaos. Ich weiß nicht, ob ich mit meiner jetzt
gewählten Lebensart bei Jonathan einkehren sollte. Vielleicht kann
ich aber auch eine Ausnahme machen, nett und freundlich sein.
Hilfsbereit.
Nein,
das kannst du nicht. Das nennt man Feigheit, du Pfadkrüppel!
Wozu
nett sein, er war es in den wirklich wichtigen Jahren auch nicht. Ein
unbegabter Stümper, der mir den Platz an der Seite meines Vaters
nahm und mich aus dem Geschäft meiner Familie drängte. Ich werde
hinfliegen, alleine schon, um zu sehen, wie er langsam dahinsiecht.
Die
Nächte bis zum Abflug meide ich Liam, ich bin mir nicht vollkommen
sicher, ob seine Reaktion auf meine Verachtung wirklich ein Zeichen
für schwach ausgeprägte Blutbindung ist. Ist dies überhaupt
möglich, kann ein willensstarker Charakter sich diesen Mächten
entziehen? Heißt das, dass ich einen schwachen Willen habe? Seine
Besonderheit irritiert mich einfach und seine Geschichte, dass er das
Blut seines Erzeugers ohne Probleme wieder ausspuckte, kann ich
jedenfalls nicht mehr glauben. Doch er ist viel zu tiefgreifend in
meine Geschäfte und auch in mein Privatleben integriert, als dass
ich ihn jetzt wegen diesem leichten Anfall von Misstrauen von mir
stoßen würde. Ich werde beobachten müssen, auf weitere Zeichen
achten, möglicherweise hat es ja auch nichts zu bedeuten. Und dieser
verstörende Alptraum bleibt auch nur eine einmalige Sache, aber die
Verunsicherung bleibt. Warum habe ich diesen Traum gehabt?
Doch
erst einmal werde ich nach Bristol fliegen und die Sache mit meinem
Bruder klären, um mich dann bei der nächstbesten Gelegenheit
offiziell für Tod erklären zu lassen. Nicht auszumalen, welche
anderen lästigen Termine und Schriftstücke mich sonst noch in
Zukunft erreichen würden. Ich habe für derlei banale Dinge einfach
keine Zeit mehr... und vor allem keine Lust.
Ich
trete aus dem kleinen Privatjet und sofort erkenne ich den Duft von
Bristol wieder, auch wenn es noch einige Kilometer bis in die
Innenstadt sind. Erinnerungen wehen zusammen mit diesem Geruch durch
meinen Verstand. Eigentlich hatte ich nicht vor, jemals wieder einen
Fuß in diese Stadt zu setzen.
Die
Fahrt dauert nur knapp eine halbe Stunde und im Wagen sitzend
überlege ich, auf was ich mich hier eigentlich eingelassen habe.
Denn trotz meiner kränklichen Erscheinung, sehe ich doch auffällig
jung aus für mein Menschenalter. Aber noch wird es wohl gehen und
ich entscheide, dass es keinem Maskeradebruch gleichkommt ihm
gegenüberzutreten.
Ich
stehe vor seiner Wohnungstür, ein unerwartet billiger Wohnblock, in
den er sich zurückgezogen hat. Er hatte wohl weniger Erfolg als ich,
nach dem geplanten Bankrott der Firma meiner Familie.
Ich
klingele und stelle mich bewusst aufrecht und selbstsicher hin, ziehe
meine Hemdsärmel straff und warte darauf, dass er die Tür öffnet.
Doch anstatt, dass er mich begrüßt, höre ich Geräusche aus der
Wohnung, die nicht gerade erbaulich klingen. Ein lautes Würgen, ein
Keuchen, ein erschütterndes Aufstöhnen ausgelöst durch körperliche
Schmerzen. Er übergibt sich... ich gebe ihm Zeit, warte weiter und
dränge ihn auch nicht durch neuerliches Klingeln.
Die
Tür öffnet sich langsam und im ersten Moment bin ich fassungslos,
sein Anblick ist nur ein Schatten von dem Mann, den ich in Erinnerung
habe. Gebeugt steht er da, der billige Frotteebademantel umhüllt
seinen knochigen Leib und sofort rieche ich den zerstörerischen
Gestank der Krebsgeschwüre in ihm. Wohl eine Fähigkeit meines
erworbenen blutdürstigen Tiers in mir, als Warnung, seinen
Lebenssaft zu meiden. Er erkennt meinen Stimmungswandel, oft musste
er sich diesem sozialen Problem wohl stellen. Seinen Zustand zu
erkennen, nimmt mir dermaßen den Wind aus den Segeln, dass ich nicht
bereit bin, mich
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