Melville
überheblich und aggressiv ihm gegenüber zu
benehmen.
„Ja,
ich weiß, ich sehe scheiße aus. Aber du wirkst auch nicht gerade
frisch.“, sagt er und stellt sich etwas abseits, damit ich
eintreten kann. Ich zögere, der Duft von Erbrochenem liegt für mich
noch unangenehm in der Luft. Doch was soll ich tun, einfach umkehren?
Ich
schreite vorsichtig in seine Wohnung, die einen sichtbar ungepflegten
Eindruck macht, er wird keine Kraft haben, um sich solch unwichtigen
Dingen wie Staubwischen und Müllentsorgen zu widmen.
„Guten
Abend, Jonathan.“, antworte ich dann schließlich und warte im Flur
ab, wohin ich gehen soll. Eine kleine Zweizimmerwohnung, die Tapeten
haben gewiss noch das letzte Jahrtausend gesehen und der verlegte
Teppich ist ganz abgewetzt.
„Du
meinst wohl eher ‚Gute Nacht’.“. Und er schafft es, trotz
seines erbärmlichen Zustandes zu lachen. Schleichend geht er an mir
vorbei und mir entgeht nicht, dass er sich krampfhaft den Bauch hält
und versucht seine Schmerzen zu ignorieren.
Ein
kleines Wohnzimmer, die Stoffcouch glänzt schon vor Abnutzung und
schief aufgestellte Regale lehnen an der Wand. Ich bemerke die Berge
an Medikamentenschachteln auf dem Couchtisch und ein wahres Spektrum
an Pillenformen und -farben in seinem vorbereiteten Wochenschälchen.
„Setz
dich doch, Melville, wenn dir dein Anzug nicht zu schade ist.“.
Grinsend und gleichzeitig ächzend lässt er sich auf den Einsitzer
fallen. Ich öffne erst den Knopf meines Sakkos, raffe meine Hose ein
wenig und setze mich dann auch. Ich kann ihn, gerade jetzt, nicht
direkt ansehen und blicke mich weiter in dem Zimmer um. Mir fallen
einige Bilderrahmen in den Regalen auf und ich sehe Fotos aus seiner…
aus unserer Vergangenheit.
„Du
warst schon immer der Schnösel von uns beiden. Du hast deinen
Schreibtisch dem Spielplatz vorgezogen. Das habe ich nie
verstanden.“.
„Ich
verstehe nicht, wie du den Schmutz und die anderen nervtötenden
Kinder vorziehen konntest.“.
„Tja,
ich schätze, so hat jeder seine Interessen.“ und zwinkert mir zu.
Wie kann er nur so entspannt sein? Seine Situation müsste ihn doch
eher in Depressionen stürzen. Und obwohl ich diese Frage stellen
müsste, fragt er mich
„Wie
geht es dir, Melville? Du siehst ein bisschen fertig aus, zwar
weniger runzlig als erwartet, aber geht es dir gut?“.
„Ja,
Jonathan, mach dir um mich mal keine Sorgen.“. Das ‚mich‘
betone ich deutlich.
„Ach,
ich habe aufgehört, mir über mich selbst Sorgen zu machen. Die
Sache ist gelaufen.“. Und wie zur Demonstration scheint ihn ein
kleiner Krampf zu schütteln, er hält die Luft an und schließt kurz
angestrengt die Augen.
„Jonathan?“,
frage ich alarmiert und beuge mich in seine Richtung.
„Schon
gut, Mel, schon gut. Geht gleich wieder.“. ‚Mel’, er war stets
der Einzige, der mich so nennen konnte, ohne dass es mich stört. Da
öffnet er neugierig ein Auge und schielt in meine Richtung und fast
kichernd sagt er
„Mein
kleiner Bruder will mir helfen... du Weichei.“. Er zieht mich auf,
wie früher auch.
„Ach
was, ich will nur nicht, dass du auf den schönen Teppich kotzt.“.
„Ohja,
das würde diesen Palast ziemlich ruinieren... aber jetzt mal ohne
Spaß, kannst du mir eine Schüssel aus der Küche holen? Ich schaffe
es manchmal nicht rechtzeitig ins Bad... tut mir leid, dass du das
jetzt so mitbekommst. Manchmal habe ich auch noch bessere Tage.“.
Seine Stimme wird dünner, er wirkt erschöpft, müde... kein Wunder,
bei der Uhrzeit die ich ihm zumute.
„Wenn
ich früher hingefallen bin, hast du mir ja auch geholfen...“, sage
ich, stehe auf und suche die Küche. Und während ich in den
Schränken nach einem geeignetem Behälter suche, muss ich darüber
nachdenken, dass Jonathan es nicht verdient hat, so aus dem Leben zu
scheiden. Was kann es wohl kosten, ihn in einem Krankhaus zu
versorgen und ihm adäquate Schmerzmittel zu verabreichen?
Ich
greife noch nach einem Küchenhandtuch, befeuchte es ein wenig und
kehre schließlich zurück. Da sitzt er, eingesunken, fast schon
friedlich und hat die Augen geschlossen. Am Atemgeräusch kann ich
hören, dass er eingeschlafen ist. Sein Kopf ist nach vorne gebeugt
und seine Hände nicht mehr ganz so fest an sich gepresst. Ich
betrachte ihn erst, stelle dann die Schüssel neben ihm ab und drehe
mich herum. Ich gehe auf den Flur und öffne die letzte mögliche
Tür, hinter der sich wohl sein Schlafzimmer befindet.
Entsetzt
erkenne ich
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