Melvin, mein Hund und die russischen Gurken
ich drei Jahre und 154 Tage älter als er.
Das klingt jetzt wahrscheinlich, als sei Jasper ein langweiliger, kleiner Streber gewesen, mit dem man nicht viel anfangen konnte. Aber abgesehen von seiner merkwürdigen Leidenschaft fürs Klavierspielen war er voll okay. Einmal zum Beispiel hatte ich Stress mit unserer Mutter. Ich guckte mit Kopfhörern ein wichtiges Basketballspiel im Fernsehen, da kam sie und hat rumgenervt, dass ich für die Englischarbeit üben soll. Jasper ist sie damit natürlich nicht auf den Wecker gefallen, der hat ja Klavier gespielt – wichtig, wichtig. Mum und ich fingen gerade an uns richtig zu zoffen, da ist Jasper plötzlich von seinem Klassik-Stück in den Song von Balu aus dem Dschungelbuch gesprungen: »Probier’s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit …« Unsere Mutter musste lachen und hat mich das Spiel zu Ende schauen lassen.
So war Jasper. Auf seine Art irgendwie cool. Er konnte jedes Lied nachspielen, das er einmal gehört hatte. Manchmal hat er die Charts rauf und runter gespielt und ich musste die Interpreten erraten. Darauf war ich ziemlich neidisch. Aber nicht so, dass ich ihm gewünscht hätte, dass er stirbt.
Was bist du, wenn dein Zwilling stirbt? Ein Einling?
Im Fernsehen habe ich mal eine Reportage über Leute gesehen, die ein Körperteil verloren hatten. Manche haben davon gesprochen, dass ihr Bein oder Arm immer noch wehtut, obwohl der Körperteil gar nicht mehr da ist. Das nennt man Phantomschmerz.
So fühlst du dich, wenn dein Zwilling tot ist: wie ein Einling mit Phantomschmerz.
Einige Tatsachen darüber, wie Jasper starb:
• Es passierte am Montag, den 12. Juni, wir spielten gerade mit ein paar Kumpels Basketball vor unserer Garage.
• Jasper fing nicht. Ich hätte den Ball vielleicht noch bekommen, aber er kriegte ihn nicht mehr und der Ball rollte auf die Straße. Jasper hinterher.
• Ich habe keine Lust, den Rest der Geschichte zu erzählen.
Mein Handy klingelt, ich schrecke aus den Gedanken hoch. Es ist Lukas.
»Hey, Alter, ich bin hier mit Fabian und den anderen in der Halle. Paar Körbe werfen. Kommst du auch?«
»Nee, kann nicht, wegen dem Scheißvorspiel.« Lukas kann ich das erzählen. Der war mit dabei, an diesem 12. Juni. Deshalb reißt er jetzt auch keinen blöden Spruch, sondern sagt nur: »Wir sind noch ’ne Weile da. Ruf an, falls du’s dir anders überlegst.«
Der hat leicht reden. Ich hab’s mir schon längst anders überlegt. Das Problem sind meine Eltern.
Nach Jaspers Tod waren sie ziemlich fertig. Wir zogen um, in ein Haus ohne Basketballkorb an der Garage. Das Klavier zog mit. Mein Dad wollte es verkaufen, aber Mum bekam so eine Art Nervenzusammenbruch, als es abgeholt werden sollte. Dabei machte es sie traurig, wie es da schweigend in der Wohnzimmerecke stand.
»Spiel doch mal was, Stefan«, bat sie mich eines Tages. Ich tat ihr den Gefallen und spielte das einzige Stück, das ich konnte – Für Elise –, weil Jasper und ich das manchmal vierhändig gespielt hatten. Es fühlte sich gut an. Als ich fertig war, lächelte Mum zum ersten Mal seit dem Tod meines Bruders.
So fing alles an: Weil eine Mutter, die ab und zu lächelt oder wenigstens rummeckert, besser ist als eine, die im Bett liegt und an die Zimmerdecke starrt, begann ich mit dem Klavierspielen. Bald darauf schleppte Mum einen Klavierlehrer an. Natürlich war ich meilenweit davon entfernt, so gut zu spielen wie Jasper. Aber ich war auch nicht völlig unbegabt, und weil ich viel übte, wurde ich langsam besser. Zumindest gut genug, um eine Einladung zu diesem Vorspiel zu bekommen.
Und das ist das Problem: Wenn ich mich morgen nicht blamiere, wird das nicht das letzte Vorspiel gewesen sein und nicht die letzte Party, die ich verpasse. Statt Basketball zu spielen, mit meinen Kumpels abzuhängen und andere Sachen zu tun, die Spaß machen, werde ich noch mehr Zeit vor dem Klavier verbringen. In dem Versuch, eine schlechte Kopie meines toten Bruders zu werden.
Ich sehe mein Leben vor mir liegen wie eine endlose, trostlose Klavierstunde. Das Klavier grinst mich mit seinem schwarz-weißen Gebiss an. Ich knalle den Deckel zu.
Damit ich es nicht länger ansehen muss, gehe ich rüber zum Fenster. Ich lehne die Stirn an die winterkühle Scheibe. Unten auf der Straße stehen parkende Autos, Leute eilen an Haufen von Sperrmüll vorbei, die auf dem Bürgersteig liegen: verschimmelte Matratzen, ein alter Rollstuhl, jede Menge kaputter Krempel.
PLING! Ein
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