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Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

Titel: Melvin, mein Hund und die russischen Gurken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Roeder
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Augenblick der Erleuchtung: Meine Rettung taucht vor mir auf wie das ferne Ufer eines Traumstrandes.
    In der nächsten Sekunde habe ich Lukas’ Nummer aufgerufen. Er geht schon nach dem dritten Klingeln dran: »Hallo?«
    »Hey«, sage ich, bevor ich es mir anders überlegen kann, »ich will mein Klavier loswerden.«
    Wir haben schon öfter über das Klavier gesprochen. Lukas ist eine Weile ganz still. »Brauchst du Hilfe?«, fragt er dann.
    Ich nicke, bis mir einfällt, dass er mein Nicken nicht hören kann. Aber da sagt Lukas auch schon: »Ich bring die Jungs mit zum Tragen. Bis gleich.«
    Eine Viertelstunde später sind sie da: Lukas und vier andere Jungs, mit denen wir regelmäßig Körbe werfen. Während die anderen verlegen im Flur rumstehen, auf ihre dreckigen Nikes starren und die Familienfotos an den Wänden mustern, reibt Lukas sich die Hände. »Wo ist denn das Schätzchen?«
    Ich führe sie ins Wohnzimmer und zeige auf meinen Klaviersarg. Das Klavier bemüht sich, besonders eindrucksvoll und schwer auszusehen. Es nützt ihm nichts.
    »Packen wir’s!«, ruft Lukas und wir packen das Klavier. Die Männer, die es brachten, haben es zu zweit getragen, wir schuften uns zu sechst einen ab. Unten auf der Treppe rutschen einem der Jungs die Hände ab und mit wildem Klirren und Klimpern saust das Klavier die restlichen Stufen hinunter. Fast hätte es Lukas zerquetscht – doch er kann sich durch einen Hechtsprung retten. »Dein Klavier ist irgendwie aggro heute!«, keucht er, als das Klavier gegen die Flurwand kracht, dass der Putz von der Decke bröckelt.
    Als wir es weitertragen wollen, sehen wir die tiefen Kratzer, die das Klavier abbekommen hat. Zum Glück ist es nicht mehr weit. Ich gehe vor, um die Haustür mit einem Keil zu fixieren. In diesem Moment wird die Tür von der anderen Seite aufgeschlossen. Da steht die Person, die ich jetzt am allerwenigsten gebrauchen kann.
    »Hallo, Stefan«, sagt meine Mutter überrascht. »Mein Chef hat mir extra erlaubt, früher …« Sie verstummt, als sie den Trupp Jungs in unserem Flur entdeckt. »Was ist denn hier los?«, fragt sie. In diesem Moment fällt ihr Blick auf das Klavier. Sie drängt sich zwischen uns durch, geht neben dem Instrument in die Hocke und streicht mit den Fingern über die Kratzer, als wollte sie gleich ein Pflaster draufkleben.
    »Was hast du mit dem Klavier gemacht?«, fragt sie mich und ihre Stimme zittert leicht.
    Was soll ich sagen – ich wollte es auf den Sperrmüll bringen, um es loszuwerden? Ich stehe in unserem stickigen Flur und weiß plötzlich, dass diese Worte niemals ausgesprochen werden können.
    Die Jungs haben kapiert, dass die Kacke mächtig am Dampfen ist, sie versuchen sich an uns vorbeizuquetschen, um unauffällig zu verschwinden.
    »Halt!«, befiehlt Mum. »Ihr werdet das Klavier wieder nach oben tragen, dahin, wo es hingehört.« Ihre Stimme klingt wie eine zu straff gespannte Saite. Lukas sieht aus, als wollte er etwas entgegnen, aber dann macht er den Mund wieder zu. In Mums Stimme liegt etwas, dem man gehorchen muss.
    Also tragen wir das Klavier wieder zurück in die Wohnung. Mit jeder Treppenstufe scheint das verdammte Ding schwerer zu werden. Nach einer gefühlten Ewigkeit steht es wieder an seinem gewohnten Platz, so als wäre nichts geschehen. Nur die Kratzer an der Seite verraten, dass es einen kleinen Ausflug gemacht hat. Mum nimmt ein Tuch und reibt unsere Fingerabdrücke von der Oberfläche. »Ihr könnt jetzt gehen«, sagt sie, ohne die Jungs anzusehen.
    Sie beeilen sich, aus der Wohnung zu kommen. Lukas geht als Letzter. »Mach’s gut, Stefan.« Behutsam zieht er die Wohnungstür hinter sich zu.
    Nun, da alle weg sind, erwarte ich, dass Mum mich anschreit. Oder zumindest, dass sie mich zur Rede stellt, warum ich das getan habe. Wie ich das habe tun können. Jaspers Klavier!
    Dann könnte ich zurückbrüllen, dass ich nicht Jasper bin. Dass es mir leid für sie tut, dass ich kein verdammtes Wunderkind bin, leid für sie tut, dass Jasper gestorben ist und nicht ich.
    Aber Mum fragt nicht. Wahrscheinlich hat sie Angst vor meiner Antwort.
    »Du musst noch für dein Vorspiel morgen üben, Stefan«, sagt sie und einen Augenblick spüre ich ihre warme Hand auf der Schulter.
    Dann geht sie und ich bleibe allein zurück mit dem stillen Lächeln meines Bruders. Mum hat sein Foto wieder auf das Klavier gestellt.
    Morgen werde ich meinem Klavierlehrer sagen, dass dies das erste und letzte Vorspiel ist, bei dem ich

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