Melvin, mein Hund und die russischen Gurken
Ich mag all den spiegelnden Marmor und das Glas und den Geruch von Sauberkeit.
Was ich weniger mag, ist der Gedanke, dass Mama hier abends putzen geht, seit Papas Firma pleitegegangen ist.
Wir fahren in die zweite Etage mit den Klamottenläden. Da kann ich alles andere vergessen. Ellie zeigt auf eine superschöne und sicher auch superteure Handtasche in einem der Schaufenster. Sie könnte sich die Tasche kaufen, wenn sie sie wirklich wollte. Oder sie sich zum nächsten Geburtstag wünschen. Ihre Eltern schieben ihr alles hinten rein.
Ich schüttele den Kopf. Die Tasche ist zu auffällig. Aber Klamotten gehen immer.
Ich ziehe Ellie in den nächsten Laden. Ruben parken wir auf einen Stuhl vor den Umkleidekabinen, wo er neben gelangweilten Freunden irgendwelcher Mädchen sitzt und mit den Beinen baumelt. Ellie und ich verschwinden mit je einem Stapel Klamotten in den Umkleidekabinen. Dann machen wir eine Modenschau für Ruben, obwohl der sich definitiv mehr für nackige Könige interessiert. »Doof«, sagt er, oder »Hmm«. Mehr ist ihm nicht zu entlocken. Als Ellie mit einem weiten Top rauskommt, lautet Rubens Kommentar: »Du bist dick.«
»Ich bin nicht dick!«, quiekt Ellie beleidigt und guckt Hilfe suchend zu mir rüber. »Oder?«
»Bist du nicht«, beruhige ich sie. »Die Seekuh, die ist dick.« Die Seekuh geht in unsere Klasse. Die hat keine richtigen Freunde, die steht sozial knapp über unserem Hausmeister, der sich ständig in der Nase rumpopelt.
»Wenn ich so fett wäre wie die, würde ich mich umbringen«, sagt Ellie und streicht sich über den flachen Bauch. Das Top nimmt sie natürlich nicht. Aber ich finde eine enge, schwarze Röhrenjeans, die »einen richtig geilen Arsch macht«. Behauptet Ellie. Ich ziehe sie unter meine eigene, weitere Hose und gehe an die Kasse, um ein paar Haargummis zu bezahlen. Dann hole ich Ellie und Ruben ab und wir verlassen den Laden.
Kein Schwein merkt irgendwas.
Draußen kichert Ellie aufgedreht und knufft mich immer wieder in die Seite. Ich knuffe heftig zurück, bevor sie noch alles versaut. Obwohl sie sich beim Klauen geschickter anstellt als die anderen aus unserer Clique, hat sie Regel Nummer eins immer noch nicht ganz verinnerlicht: Normalität vortäuschen.
Darin habe ich Übung. Als mein Vater seinen Job verlor und sie mir das Taschengeld gekürzt haben – Regel Nummer eins. Als Ellie anfing, komisch zu gucken, weil ich nicht mehr mit ihr und den anderen Mädels shoppen ging – Regel Nummer eins. Als ich anfing, mich ein bisschen wie eine Seekuh zu fühlen – Regel Nummer eins.
Irgendwann habe ich zum ersten Mal geklaut – einen neuen Bikini für den Schwimmunterricht. Ich habe es allein und heimlich gemacht, so wie die Seekuh auf der Toilette heimlich Schokoriegel frisst.
Als Ellie mich das nächste Mal gefragt hat, ob ich mit shoppen gehe, habe ich ihr erklärt, dass gekaufte Klamotten mich langweilen, weil die jeder haben kann. Da hat sie mich mit großen Augen angesehen und ich habe ihr einen langen, wissenden Blick zugeworfen.
»Ich brauch Make-up«, sage ich und wir betreten die Drogerie und laufen an Haartönungen vorbei, durch dezente Duftwolken der Parfümabteilung bis rüber zu den Regalen mit der Schminke. Ruben ist nicht begeistert. »Das ist doof hier. Können wir nicht lieber Eis essen gehen? Und du hast versprochen, dass du mir vorliest, Janina«, meckert er.
»Ja, ja, später«, murmele ich, während ich auf meinem Handrücken verschiedene Grundierungen teste.
Ellie tuscht ihre Wimpern und lässt die Mascara in ihrem Ärmel verschwinden. »Die da ist am besten«, verkündet sie und zeigt auf einen zart pfirsichfarbenen Fleck auf meiner Haut. »Nimm die und lass uns abhauen.« Ich zögere noch, da lässt Ellie die kleine Tube Make-up in Rubens Plastiktüte fallen. »Hier, mach dich mal nützlich, Zwerg.« Ruben macht große Augen. Ich auch. Ellie spaziert zum Ausgang. Ich laufe ihr nach.
»Sag mal, spinnst du?«, zische ich. »Wenn hier jemand meinen Bruder zum Klauen anstiftet, bin ich das, klar?« In diesem Moment fühle ich eine schwere Hand auf meiner Schulter und eine Männerstimme direkt hinter mir sagt: »Bitte bleiben Sie stehen …«
Einen Augenblick steht die Zeit still. Und dann macht etwas in mir klick. Ich winde mich aus dem Griff, der mich halten will, und schreie Ellie zu: »Lauf!« Und dann rennen wir, so schnell wir können, und wir können verdammt schnell rennen.
Hinter uns sind aufgeregte Rufe zu hören, wir
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