Memed mein Falke
früh bis spät getan hatte. Es schien, als trage er etwas mit sich herum, mit dem er nicht fertig wurde. Seine Ziegen hatte er immer auf die beste Weide, in das Waldstück mit dem saftigen Grünfutter, geführt. Nie war es seinen Blicken entgangen, wenn eines der Tiere auch nur einen Augenblick nicht fraß. Sofort hatte er für Abhilfe gesorgt. Jetzt überließ er die Ziegen auf der Weide sich selbst, während er an einer schattigen Stelle, das Kinn auf seinen Hirtenstab gestützt, ins Grübeln verfiel. Ab und zu konnte er seine Gedanken nicht mehr still mit sich abmachen, dann führte er laute Selbstgespräche: »Mein Mütterchen, ach, mein Mütterchen! Wer soll jetzt dein Korn schneiden? O Abdi Aga, du Ungläubiger! Unser Korn verdorrt und geht vor die Hunde! Wer soll es nur schneiden, Mütterchen, jetzt, wo ich nicht da bin?«
Dann hielt er inne, spähte nach dem Himmel und den Wolken, besah den Boden und seine schon rötlichbraunen, schnittreifen Ähren.
»Bald wird es zu Stroh geworden sein, unser Feld an der Storchenquelle. Ach, Mütterchen, wie willst du die Ernte allein schaffen?«
Selbst nachts ließ ihn diese Sorge keinen Schlaf finden. Er wälzte sich unruhig auf seinem Lager. »Nicht ein einziges Körnchen erntet man, wenn man spät dran ist. Das ganze Feld ist ja im Nu ausgetrocknet.« Morgens war er dann wie zerschlagen. Matt, übernächtigt trieb er die Ziegen vor sich her. Die Tiere zerstreuten sich in alle Richtungen; er achtete nicht darauf. Nur wenn Süleymans freundlich lachendes, weißumrahmtes Gesicht, seine Augen, die Augen eines liebevollen, fürsorglichen Vaters, plötzlich vor ihm auftauchten, kam er wieder zu sich. Dann mußte er sich vor sich selbst schämen. Dann sammelte er rasch seine Ziegen wieder, trieb sie auf ein gutes Weideland. Aber es dauerte nicht lange, bis ihn die düsteren Vorstellungen wieder in ihrem Bann hatten. Er mußte sich auf die Erde niederhocken, wenn seine Gedanken zum Feld an der Storchenquelle, zu seiner unter tausend Plagen gebeugten Mutter wanderten ...
Als er wieder hochschaute, ging die Sonne schon unter, und er mußte die Herde zusammenholen. Dann trieb er sie auf den Kinalitepe zu, auf den rötlichen Hügel, auf dem die letzten Sonnenstrahlen lagen. Er stieg hinauf, die Tiere ließ er am Hang zurück. jenseits des Hügels breitete sich eine Ebene aus, über der langsam aufsteigend die Abendnebel schwammen. Das war die Distelplatte. Aber das Dorf Değirmenoluk konnte man von hier aus nicht sehen. Es lag hinter einer grauen Bodenwelle. Ringsumher sah das Gras so ausgetrocknet aus, als könnte es jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Plötzlich fiel ihm ein, was Süleyman so oft gesagt hatte: »Geh ja nicht über den Kinalitepe hinaus!« Er war innerlich wütend auf sich selbst wegen seines Ungehorsams, aber noch mehr erboste es ihn, daß sich auf der anderen Seite des Kinalitepe keine Menschenseele blicken ließ. Rennend kam er unten an, brachte mit viel Mühe die auseinandergelaufenen Ziegen wieder zusammen und erreichte zu später Stunde das Dorf. Süleyman log er vor, eine so schöne Weide entdeckt zu haben, daß es ein Jammer gewesen wäre, die Ziegen so schnell wieder von dort wegzutreiben.
An einem der folgenden Tage, nach einer erstickend schwülen Nacht, trat er wieder in aller Frühe in den dumpfig riechenden Ziegenstall, um die Herde hinauszutreiben. Es gibt Morgen, an denen schon lange vor der Dämmerung ein Stück des Osthimmels rötlich zu schimmern beginnt. Dann erscheint ein goldener Saum an den Wolken, und es dauert nicht lange, bis die Morgendämmerung hereinbricht. Genauso war es heute. Das konnte Memed sehen, als er zum östlichen Horizont blickte. Leben kam in ihn, und es wurde ihm leicht ums Herz. Er fühlte sich unbeschwert wie ein Vogel, als ihm die Morgenbrise in leichten Wellen über das Gesicht strich. In unerklärlicher Erregung klopfte ihm das Herz, als er seine Herde zum Kinalitepe trieb. Memed ging hinter der Staubwolke, die die Ziegen aufwirbelten. Am Fuße des Hügels ließ er die Ziegen sich hierhin und dorthin verlaufen, setzte sich auf den Boden, stützte das Kinn auf seinen Stock und hing seinen Gedanken nach. Plötzlich stand er in wütender Entschlossenheit auf, um die Tiere zu sammeln und dem Hügel zuzutreiben. Ebenso schnell gab er diesen Gedanken auf, setzte sich wieder, tauchte in seinen Grübeleien unter. Als er so, den Kopf in beiden Händen, dasaß, kam eine Ziege auf ihn zu, leckte ihm Gesicht und
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