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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasar Kemal
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Wasser gefallen.
    ... ins Wasser ...
    Plötzlich setzte sich die Menge ostwärts in Bewegung, die barfüßigen Kinder an der Spitze, dann folgten die Frauen, mit bloßen Füßen auch sie. Die Kleinen bahnten den Weg durch das Distelgestrüpp, mit blutüberströmten Beinen. Die Frauen folgten, die Graudisteln verfluchend. Hinter dem Distelfeld lag die Felsengruppe vor ihnen. jetzt gingen die Frauen voran, die erschöpften, blutenden Kinder blieben zurück. Als sie an der rauschenden großen Platane angekommen waren, hatten auch die Kräfte der meisten Frauen nachgelassen. Als sie das Brodeln des Wassers hörten, blieben sie stehen, um nach einem Augenblick des Atemholens geschlossen, wie eine Herde, auf das Wasserloch zuzulaufen, das von dem unter dem Felsen hervorschießenden Wasser zu einem großen Becken ausgehöhlt worden war. Eine nach der anderen trat heran, blickte verstört auf die gurgelnde, wirbelnde Fläche über der unheimlichen Tiefe. Im Halbkreis standen sie darum herum. Ein paar Blätter trieben wirbelnd obenauf, immer an der gleichen Stelle, ohne fortgespült zu werden.
    Nachdem die Frauen lange stumm auf das Toben des Wassers gestarrt hatten, sagte die alte Cennet unvermittelt: »Er wäre wieder nach oben gekommen, wenn er hier hineingefallen wäre.«
    »Er wäre wieder nach oben gekommen.«
    »Er kann ja nicht darinbleiben, er wäre nach oben gekommen.«
    »... wäre nach oben gekommen.« Zustimmendes Gemurmel antwortete.
    Dann kehrten sie um, matt und ohne Hoffnung, jede für sich mit gesenktem Kopf, die Kinder, wieder in ihre Spiele versunken, hinterher.
    Döne, der junge Mädchen aus dem Dorf an die Hand gegangen waren, fiel fiebernd und in Tränen aufgelöst auf ihre Lagerstatt. Erst nach Tagen sah man sie wieder, mit blutunterlaufenen Augen, ein weißes Tuch um die Stirn gewunden. Dann blieb sie verschwunden.
    Bald ging es im Dorf von Mund zu Mund: »Wißt ihr, wo Döne geblieben ist? Sie sitzt dort droben am Strudel und starrt auf das Wasser. Sie ißt und trinkt nichts mehr, sie starrt nur aufs Wasser und wartet, bis ihr toter Sohn zum Vorschein kommt.«
    Genauso war es. Sie erhob sich Morgen für Morgen vor Tagesanbruch und ging zum Wasser. Das dauerte etwa zehn Tage so fort. Dann kam sie ganz gebrochen zurück und verkroch sich in ihrem Haus. Aber eine neue irrsinnige Hoffnung mußte sich in ihr festgesetzt haben: Wieder stand sie im Morgengrauen auf, stieg auf das flache Dach ihres Häuschens und suchte von dort den weiten Horizont mit ihren Blicken ab. Sah sie irgendwo eine Gruppe von Adlern kreisen, so rannte sie in blindem Lauf auf die Stelle zu, ohne auf den Weg zu achten. Sie war abgemagert. Manchmal kreisten die Adler weit in der Ferne, einmal zum Beispiel über Yağmurtepe, wohin man erst nach einem Tagesmarsch gelangte. Döne lief auch dorthin.
    Eines Abends spät klopfte es an ihrer Tür. »Mach auf, Schwester Döne, mach auf, ich bin's, Dursun.«
    Hoffend und zagend zugleich öffnete sie die Tür. »Komm herein, Bruder Dursun. Mein Memed hat dich gern gehabt ... «
    Dursun setzte sich gemessen auf Dönes schon zur Nacht gerichtete Lagerstatt. Er sprach mit ruhiger Sicherheit: »Hör zu, Schwester. Mein Herz sagt mir, daß dein Sohn lebt. Mir ist so, als ob er sich in den Kopf gesetzt hätte, irgendwohin zu gehen. Aber ich werde ihn finden.«
    Döne hatte sich neben ihm niedergelassen. »Weißt du etwas? Bitte, bitte sag es, Bruder Dursun, wenn du etwas weißt.«
    »Ich weiß nichts Bestimmtes, Schwester. Aber mein Herz hat gesprochen. Ich sage dir nur das eine: Er ist nicht tot. Memed lebt.«
    »Meine einzige Hoffnung bist jetzt du, Bruder«, sagte sie, als sie ihm Glück auf den Heimweg gewünscht hatte. »Wenn ich nur wüßte, daß er wohlauf ist, sonst wünsche ich mir nichts auf der Welt ... Von ihm kannst nur du etwas wissen, Dursun Aga. Ich flehe dich an. Von ihm weißt nur du etwas.«

4
    Der Sommer kam, die Erntezeit. In der Çukurova sagt man »die gelbe Hitze«, aber die Leute am Fuß des Taurus sprechen von der »weißen Hitze«. Jetzt drückte die weiße Hitze auf das Land.
    Vom ersten Tag an war Ince Memed nicht als Hirtenjunge, sondern wie ein Sohn des Hauses gehalten worden, der dem alten Süleyman über alles ging. Obwohl er es hier besser hatte als jemals zuvor, war der Junge, so springlebendig, fast übermütig er nach der ersten Zeit geworden war, seit ein paar Tagen wie verwandelt. Er brachte den Mund nicht mehr auf, sang keine Lieder mehr, wie er es sonst von

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