Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Erde unter ihren Füßen.
PARTRIDGE
Weihnachtsbaum
Als Partridge die Augen öffnet, blickt er in das Gesicht von Hollenbacks fünfjähriger Tochter Julby. In diesem Zimmer ist er auch während der Weihnachtsferien aufgewacht, die er bei den Hollenbacks verbracht hat. Er hört, wie Mrs Hollenback in der Küche singt; sie hatte schon immer eine Vorliebe für Lieder über Schneemänner und Schlittenfahrten. Julby ist gewachsen. Ihre beiden unteren Schneidezähne fehlen.
Letzte Nacht ist Partridge gleich nach seinem Abschied von Glassings zu Hollenbacks Wohnung gegangen, zu der Tür mit dem kleinen Löwenkopftürklopfer – der Löwe ist das Maskottchen der Akademie –, der nun mit gekräuselten Bändern behangen war. Mrs Hollenback bringt den Mädchen bei, wie man solche Bänder anfertigt. Die Geschichte der Häuslichkeit als Kunstform. Darunter baumelten zwei Papierschneeflocken, wie sie auch in den Fenstern der Schule kleben – als wäre Lyda die ganze Zeit bei ihm. Einen Moment lang stellte Partridge sich vor, wie die Familie in ihren Betten schlief, fest eingewickelt in die Decken. Er wollte sie nicht wecken.
Trotzdem betätigte er den Türklopfer.
Nach einigen Minuten hörte er schlurfende Schritte und Hollenbacks Stimme: »Hallo? Wer ist da? Was in aller Welt …« Das Schloss klickte, Hollenback riss die Tür auf.
Plötzlich stand er vor ihm, der aufgescheuchte Hollenback mit den paar dünnen, schwindenden Haaren auf dem beinahe kahlen Kopf. Er knotete sich gerade den Bademantel zu. Seine Schultern wirkten klappriger als früher, oder sah es nur so aus, weil er nicht sein übliches Sakko trug? Er schien das Ganze für einen Streich oder einen überzogenen Alarm zu halten.
Dann hielt er inne und starrte Partridge an. Bis zu diesem Moment hatte er gewusst, was er von der Welt zu erwarten hatte – jetzt war alles anders. Partridge sah den Schrecken in seinen Augen. Hollenback war aus dem Gleichgewicht, und darüber freute Partridge sich, denn in diesem Augenblick hasste er seinen alten Lehrer, weil er die Wahrheit kannte, weil er die Lüge jeden Tag schluckte und weitergab.
Jetzt sind Sie wohl aufgewacht? , hätte er am liebsten gesagt. Das ist das richtige Leben. So fühlt sich das an.
Hollenback scheuchte ihn eilig ins Innere. »Partridge Willux«, murmelte er immer wieder vor sich hin. »Was sagt man dazu?« Als Nächstes tätigte er einen Anruf mit dem Haustelefon, von dem er kreidebleich zurückkehrte. »Heute Nacht bleibst du hier«, sagte er dann. »Alles ist gut. Morgen wirst du abgeholt.«
Und jetzt streckt Julby ihm ihre Nase ins Gesicht. »Du kannst doch nicht den ganzen Tag schlafen!«
»Wie geht’s, Julby? Du bist aber groß geworden.«
Julby trägt einen Pulli mit einem gestickten Weihnachtsbaum. »Ich bin jetzt im Kindergarten. Gruppe drei mit Mrs Verk. Meine Mutter hat gesagt, ich soll dir sagen, dass es Essen gibt.«
»Essen?«
»Ja, unser Samstagsessen«, erwidert sie stolz. Partridge erinnert sich, dass bei den Hollenbacks samstags immer mittags gespeist wird – alle zusammen an einem Tisch, eine spartanische, aber echte Mahlzeit. Keine Soytex-Pillen, keine Energiedrinks mit Kreidearoma, sondern richtiges Essen, eine Annehmlichkeit für langgediente Lehrkräfte. »Du bist auch eingeladen.«
»Sicher?« Partridge weiß, dass es kaum genug für alle gibt.
»Ja-haa! Und du bist nicht der Einzige.«
»Wer noch?« Bestimmt nicht sein Vater oder Glassings.
»Ein Mädchen !« Lyda – denkt Partridge zuerst, doch die Hoffnung wird sofort von einer logischeren Vermutung verdrängt: Iralene. »Sie hat glänzendes Haar und sie ist schon da«, sagt Julby. »Und sie riecht nach Seifenblasen!«
»Klingt nach Iralene.«
Julby zuckt mit den Schultern und nestelt an den Kügelchen, die ihren Pulli-Weihnachtsbaum schmücken. »Sie soll dich nach Hause bringen.«
»Ich hab kein Zuhause.«
Sie guckt ihn an und lacht. »Du bist so lustig!«
»Das war aber nicht lustig gemeint.«
Da macht Julby ein feierliches Gesicht. »Jarv hat auch kein Zuhause mehr.«
Mrs Hollenback hat immer nach Ausreden für Jarvs Zustand gesucht. Er ist nur so klein, weil er alles wieder ausspuckt. Er hat eine empfindliche Verdauung. Aber das gibt sich! Kinder, die sich schlecht entwickeln, werden oft außer Haus behandelt. Hat es auch Jarv erwischt? »Wie geht’s Jarv denn so?« Partridge trägt noch immer Anzughose und Hemd, beides mittlerweile ziemlich zerknittert.
Während er die Krawatte von einer
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