Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
dezente Duft der kleinen Hunde im Kapitol, die regelmäßig mit aromatisiertem Shampoo eingeseift werden. Lyda liebt diesen Gestank; wenn er ihr in die Nase steigt, fühlt sie sich lebendig. Der Griff ihres Bogens glänzt, poliert von ihrer feuchten Hand. Den Pfeil hat sie selbst angefertigt, nach Mutter Hestras Anweisungen. Der Bogen besteht aus Fiberglas von irgendeinem Fundstück, das die Mütter zerlegt und in Streifen geschnitten haben. Dazu eine zarte, glitzernde Sehne. Wenn Lyda die Sehne freigibt, klimpert eine Note an ihrem rechten Ohr, als wäre die Sehne früher die Saite eines Musikinstruments gewesen.
Lyda überprüft den Stand der Befiederung. Der Pfeil sitzt sicher auf der Sehne. Alles ist bereit.
Vor ihr raschelt es. Sie hält inne und hebt die Hand. Mutter Hestra erstarrt, während Lyda in die Knie geht, um das Ziel durchs Gestrüpp anzuvisieren. Auch Mutter Hestra lässt sich wortlos auf ein Knie sinken.
Lyda findet ihr Ziel: ein dickliches Zwergreh, das auf den verkürzten Vorderbeinen kauert und mit der Schnauze im Waldboden wühlt. Trifft der Pfeil zwischen den Schultern, durchbohrt er das Rückenmark und dringt er in den Schädel ein, sollte das emsig schnüffelnde Tier den tödlichen Einschlag gar nicht bemerken. Trifft er dagegen schlecht, müssen sie das verletzte Tier durchs Unterholz verfolgen, und der Pfeil wäre vermutlich verloren. Zum Glück verfehlt Lyda ihr Ziel so gut wie nie.
Lyda spannt den Bogen und peilt das Reh über die Pfeilspitze hinweg an. Ihrer Erfahrung nach weichen Zwergrehe immer zuerst nach hinten aus, um das Gewicht von den verkürzten Vorderbeinen auf die kräftigen Hinterbeine zu verlagern. Sie zielt. Sie ist bereit. Ihre Atmung geht langsam. Doch als sie sich vorstellt, wie der Pfeil fliegt und ins Reh eindringt, spürt sie ein Prickeln in der Brust und in der Kehle, als hätte sich ihr Magen vor Nervosität umgedreht. Ihr wird schwindlig. So fühlt sie sich, wenn sie an Partridge denkt – dieselbe Hitzewelle wie damals, als sie ihn geküsst hat, als sie mit ihm allein war. Liebeskrank. So nennt man das, so fühlt sie sich. Trotzdem lässt sie den Pfeil fliegen, obwohl sie weiß, dass ihre Hand zu unruhig ist. Sie hat den Schuss verzogen.
Und sie irrt sich nicht. Der Pfeil rauscht durch die unteren Rippen des Rehs. Es quiekt wie ein Schwein, kippt um, rappelt sich gleich wieder auf und geht in Deckung.
Mutter Hestra rennt. Sie presst Sydens Kopf fest an die Hüfte und überholt Lyda, bevor diese überhaupt aufgestanden ist.
Lyda sprintet hinterher. Sie will sich entschuldigen – nicht nur bei Mutter Hestra, sondern auch bei dem Tier, das durch ihren Fehler zu leiden hat. Hoffentlich hinterlässt die Wunde eine Blutspur, die Mutter Hestra rasch zu dem Reh führt, um es von seiner Qual zu erlösen. Andererseits könnte der Blutgeruch bösartigere Hybriden aus dem Gehölz locken …
Lyda folgt Mutter Hestra. Trotz Sydens Gewicht ist die Mutter schnell und leichtfüßig; sie hat gelernt, das Ungleichgewicht auszugleichen.
Womöglich werden sie bald von anderen Bestien eingekreist. Lyda macht den nächsten Pfeil bereit. Mutter Hestra hat ein Gewehr dabei, das sie aus einem geheimen Lager der Kellerjungs gestohlen hat; die Kellerjungs müssen es ursprünglich den Spezialkräften abgenommen haben. Doch sie benutzt die Waffe nur im absoluten Notfall.
Warum hat Lyda daneben geschossen? Hat sie etwas Verdorbenes gegessen oder hat sie einfach Hunger? Für einen Moment schleicht Partridge sich wieder in ihre Gedanken, doch sie schmeißt ihn raus. Im Wald muss sie auf der Hut sein, sie darf nicht abschweifen. Ihre Finger schließen sich noch fester um den Bogen. Nach ein paar Schritten sieht sie Mutter Hestra vor einem pelzigen Klumpen stehen. Das Reh hechelt noch. Blut tränkt sein Fell und sammelt sich neben der Schnauze. Sein Kopf zuckt, als wollte es immer noch aufstehen.
Mutter Hestra zieht das Gewehr und fährt sich widerwillig über die Worte auf ihrer Wange – … DAS LAUTE BELLEN DER HUNDE. ES WAR BEINAHE DUNKEL. Sie hält Syden nicht die Augen zu; der Tod gehört zum Leben. Doch Lyda blickt weg, als das gedämpfte Knacken ertönt. Sie weiß, was es war: der Gewehrkolben auf dem Schädel des Rehs. Wozu Munition verschwenden? Das Reh hat seinen Frieden gefunden, denkt Lyda. Doch als sie einen Baum umrundet und die Szene deutlicher sieht, wird ihr klar, dass da etwas nicht stimmt. Mutter Hestra dreht sich zu ihr. »Sie hat ein Kind in sich getragen. Ich
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