Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
vollständig angezogen, seine Beine liegen quer über ihren. Sie haben sich geküsst und geküsst, bis Pressias Lippen ganz rau waren. Irgendwann mussten sie einschlafen.
Unter Bradwells Hemd regen sich die Vögel. Die Nacht ist noch nicht vorüber, doch im aschevernebelten Mondlicht kann sie sein Gesicht erkennen – es wirkt so friedlich, so jung. Er ist ja auch jung, sagt Pressia sich. Sie sind beide jung. Bradwell sieht so verletzlich aus, dass sie sich beinahe vorstellen kann, wie er wäre, wenn nichts davon geschehen wäre – der Mord an seinen Eltern, der Verlust Walronds, die Explosionen … könnte es sein, dass er sich zu einem lieben, sensiblen Typen entwickelt hätte? Vielleicht ist ein Teil von ihm trotz allem sensibel geblieben; vielleicht haben sie deshalb erst jetzt wieder zueinandergefunden. Weil Bradwell genauso viel Angst davor hat, verletzt zu werden, wie sie selbst.
Automatisch fasst sie nach den beiden Ampullen, die sie sich vor den Bauch gebunden hat. Sie sind in Sicherheit.
Jetzt kann sie bestimmt nicht mehr schlafen, und wahrscheinlich ist es sowieso Zeit, El Capitán abzulösen und ihre Schicht anzutreten. Pressia steht leise auf, hängt sich das Gewehr über die Schulter und steckt ihr Messer ein.
Als sie sich aus der Unterführung hervortastet, hört sie Gesang – eine raue, leise Stimme singt ein Liebeslied über einen Mann, der seine Geliebte in den Explosionen verloren hat. Pressia hat das Lied schon oft gehört.
Aus Asche und Tränen, aus Asche und Tränen
formt sich prachtvoller Stein.
Ich stehe am Bahnsteig auf ewig,
erstarrt, leblos – und allein.
Es kann nur El Capitáns Stimme sein. Mit dem Rücken zur Böschung bleibt Pressia stehen und hört leise zu. Er klingt traurig, schwermütig, untröstlich. Sie wusste gar nicht, dass diese Gefühle in ihm stecken. Ist El Capitán verliebt? Oder hat er einen geliebten Menschen verloren? Anders kann sie sich die tiefe Sehnsucht in seiner kratzigen Stimme nicht erklären.
Sicher wäre es ihm peinlich, dass sie ihm zugehört hat. Deshalb kehrt Pressia in die Unterführung zurück, räuspert sich lautstark und tritt erneut ins Freie.
Der Gesang bricht ab – mitten im Ton.
Sie ruft seinen Namen. »Cap?«
»Was ist?«, erwidert er mürrisch.
Als sie den Hang hinaufklettert, sieht sie ihn, wie er mit dem Gewehr im Arm zwischen den verbogenen, zerstörten Gleisen sitzt. Auch Helmud kann sie erkennen. El Capitán wiegt sich langsam vor und zurück, als wollte er ein Baby beruhigen – Helmud oder das Gewehr? Er scheint es gar nicht zu bemerken. Neben ihm hockt der stille, dunkle Fignan. »Du kannst reingehen und schlafen«, sagt Pressia. »Ich übernehme für dich.«
»Wo ist Bradwell?«
»Der schläft.«
»Wirklich?«, fragt er mit vorwurfsvollem Unterton. Weiß er, dass sie sich geküsst haben?
»Ja, wirklich. Er ist nach mir dran. Ich konnte nicht schlafen.«
»Verstehe.«
»Stimmt irgendwas nicht?«
»Nein, nein.« El Capitán steht auf. »Brauchst du Fignan oder soll ich ihn mitnehmen?«
»Lass ihn hier. Wenn alles ruhig bleibt, kann ich ein bisschen weiterforschen.«
»Bisher war es ruhig – einigermaßen.« Nach ein paar Schritten bleibt er stehen. »Wir sind gerade erst aufgebrochen und haben schon einen Mann verloren. Wir müssen uns konzentrieren. Wir alle.«
»Ich weiß.«
Er hebt eine zweifelnde Augenbraue – ein misstrauischer Blick, der Pressia nicht gefällt. Gleichzeitig regt sich Helmuds schläfriger Kopf. Als er Pressia entdeckt, lächelt er.
»Schlaf ruhig weiter, Helmud«, sagt sie.
El Capitán wirft einen Blick über die Schulter. »Ja, schlaf weiter.« Damit dreht er sich um und trottet die Böschung hinunter.
Es ist kalt. Pressia schlingt die Arme um den Oberkörper. Ein paar Minuten summt sie das Lied vor sich hin, in Gedanken bei Bradwell. Ein Lied, das davon handelt, auf jemanden zu warten, der nie zurückkehrt. Ihre Ängste schleichen sich wieder an.
Das Land liegt so still und öde vor ihr, dass sie sich schließlich an Fignan wendet. »Wach auf. Wir haben zu tun.«
Fignans Lichter leuchten auf. Seine Beinchen fahren sich aus, bis sie seinen Körper vom Boden abheben.
»Ich will mehr über Irland wissen. Und über Newgrange.«
Fignan präsentiert ihr eine schwindelerregende Bandbreite an Informationen – eine Chronik der Kriege, der Topografie, des Klimas und der Geologie, und sogar ein paar Verweise auf irische Mythologie, Dicht- und Erzählkunst. Er lässt die Luft
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