Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
sie nicht aufhalten. Sie sitzt im Schneidersitz auf ihrer Decke und fühlt sich überflüssig, während sie dem Drang widersteht, sich die Hände auf die Ohren zu schlagen und mit den Füßen auf den Boden zu trampeln. Die Mütter haben ihr ihren Plan nicht erklärt, doch Lyda weiß, dass sie keine Chance haben.
Mutter Hestra tritt ein. Wie eine Säule steht sie neben Feldbett Nummer neun und blickt auf Lyda herab. Syden hustet, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, doch in ihrer Verzweiflung kann Lyda ihn und seine Mutter nicht mal ansehen. »Hast du an meine Bitte gedacht?«, fragt sie schließlich. »Hast du nach ihnen gesucht?« Pressia, Bradwell, El Capitán und Helmud. Nur sie können jetzt noch helfen.
»Sie sind weg«, sagt Mutter Hestra.
»Weg?« Lyda blickt auf. »Wo sind sie denn?«
»Keiner unserer Spione im Vorposten weiß, wo genau, aber sie haben unsere Grenzen verlassen. Sie sind weiter gereist, als unseres Wissens jemals jemand gereist ist.«
»Das überleben sie nicht.«
»Sie hatten sicher ihre Gründe. Wichtige Gründe, die das Risiko wert waren.«
Es ist immer dasselbe – ständig riskieren die Leute ihr Leben, weil irgendetwas wichtig ist. Partridge ist weg. Illia ist tot. Jetzt sind auch die anderen gegangen. Lyda ist ganz allein. »Was ist mit Wilda?«
»Mit wem?«
»Wilda. Ein kleines Mädchen. Das Mädchen, das sie gereinigt haben.«
»Mittlerweile gibt es viele wie sie.«
»Ist sie mitgegangen?«
»Nein.«
»Geht es ihr gut?«
»Keinem gereinigten Kind geht es gut, Lyda. Ihre Körper brechen zusammen. Die Toten haben sie auf dem Gewissen. Noch ein Grund, in den Kampf zu ziehen.«
Lyda schüttelt den Kopf. »Wie warst du früher, im Davor? Erinnerst du dich an dieses andere Ich?«
»Ich war Schriftstellerin.«
»Schriftstellerin? Was hast du geschrieben?«
»Verschiedenes. Was die Regierung erlaubt hat – und was sie nicht erlaubt hat.«
»… das laute Bellen der Hunde. Es war beinahe dunkel. Ist das von dir?«
Mutter Hestra nickt. »Es handelt von meiner Schwester. Sie ist geflohen. Sie hat hinter den Meltlands gelebt, und sie hat kein Doppelleben geführt. Nicht wie ich – ein Leben für die Regierung, ein verborgenes Leben für mich selbst. Sie hat sich dem Widerstand angeschlossen. Aber sie haben sie gefunden. Sie haben die Hunde auf sie gehetzt.«
»Mein Gott«, stöhnt Lyda. »Aber warum …«
»Warum die Worte in mein Gesicht eingebrannt sind?«
Sie nickt.
»Ich habe die Seite, die ich gerade geschrieben hatte, vors Fenster gehalten, gegen das Licht. Das weiße Papier hat die Strahlung reflektiert, die schwarze Tinte hat sie absorbiert und die Buchstaben auf meine Haut gebrannt. Ich habe eine Lüge gelebt. Ich wollte den Leuten nie von meiner Schwester erzählen. Ich wollte darüber schreiben und alles in die Schublade legen. Jetzt muss ich mit meiner Sünde leben. Ich trage meine Feigheit im Gesicht.«
Lyda blickt auf ihre Hände – auf ihre schwieligen, vernarbten Hände. Sie will nicht mehr rein sein, und wegen ihres Babys ist sie es auch nicht mehr. Ein gutes Gefühl.
»Deine Freunde«, erklärt Mutter Hestra, »haben uns zu einer wichtigen Entdeckung geführt. Im Vorposten wurde eifrig gearbeitet. Wir haben herausgefunden, was sie hergestellt haben, und sind reingegangen, um es uns zu holen. Willst du mal sehen?«
Lyda seufzt. Im Grunde will sie nur an die Wand starren – vor allem auf einen Wasserfleck, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Bärenkopf hat –, bis der Lärm aufhört. Bis alles vorbei und erledigt ist. Aber das geht nicht. »Ja«, sagt sie.
Mutter Hestra greift in ihren Jagdbeutel, den das getrocknete Blut braun gefärbt hat, und zieht einen festen, dunklen Metallklumpen heraus.
»Was ist das?«
»Früher war es eine Roboterspinne, die uns im Auftrag des Kapitols umbringen sollte. Jetzt ist es eine Granate, mit der wir die Toten im Kapitol umbringen werden.«
»Das Kapitol hat den Bomben standgehalten. Was wollt ihr da mit ein paar selbstgebastelten Handgranaten ausrichten?«
»Wir haben noch etwas gefunden … genau das Richtige, taktisch gesehen. Damit können wir eine Menge ausrichten.«
»Was ist es?« Lyda wüsste nicht, wie man gegen das Kapitol überhaupt etwas ausrichten soll.
Diesmal greift Syden in den Jagdbeutel. Er zieht zwei plattgedrückte, aschgraue Bögen aus dickem Papier heraus. Einer ist auf einer Seite mit ausgeblichenen Farben bedruckt – eine Werbung, die Lyda sofort wiedererkennt: SO
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