Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
bleibt, schwingt sie ein Bein über seinen Rücken und lässt sich auf den Boden rutschen, stellt Fignan ab und rennt zu ihnen. »Was ist passiert? Was ist hier los?«
»Seelen«, flüstert El Capitán.
»Seelen«, sagt Helmud.
Sie sieht das Messer auf dem Boden, hebt es auf und will schon anfangen, die Ranken durchzusägen.
»Nicht!«, ruft El Capitán. »Das macht es nur noch schlimmer. Sie wachsen nach.«
»Was soll das heißen?«
Er schüttelt bloß den Kopf. »Lass es.«
Pressia geht in die Knie, streckt die Arme aus und nimmt Bradwells Wangen zwischen die Hände. »Bradwell!« Als sie die Finger vor seine leicht geöffneten Lippen legt, spürt sie einen schwachen, warmen Atemhauch. »Er lebt.«
»Wir sind aneinandergefesselt«, sagt El Capitán. »Wir werden gemeinsam sterben.«
»Nein.« Pressia starrt auf die Ranken, die sich in endlosen Schlingen um ihre Körper gewunden haben. »Irgendwo muss es eine Wurzel geben. Wenn wir die Wurzel …«
»Unsere Seelen stehlen«, sagt El Capitán.
»Seelen stehlen«, wiederholt Helmud.
Pressias Augen fliegen auf der Suche nach einem gemeinsamen Ursprung über das Efeugewirr. Aus Verzweiflung legt sie die Fingerspitzen auf eine dünne Ranke. Vielleicht findet sie einen Puls, eine Energie, der sie nachgehen kann? Nach einer Weile entdeckt sie tatsächlich eine Ranke, die unterer größerer Spannung zu stehen scheint. Dieser Ranke folgt sie auf ihrem labyrinthischen Weg um Bradwells Körper, über seine Brust und seine Hüfte bis zum Bein. Sie bleibt bei diesem einen Strang, der vibriert, als wäre er lebendig, als würde irgendwo – vielleicht tief in der Erde – ein Herz schlagen.
Die Ranke wickelt sich um Bradwells Knöchel und verschwindet unter seiner Stiefelferse. Pressia hebt das Messer auf, presst die Ranke mit der Puppenkopffaust auf den Boden und schneidet sie durch, so schnell sie kann. Die Ranke rollt sich ein und versinkt mit einem schlangenartigen Zischen in der Erde.
Schlagartig vertrocknen die Dornen, werden spröde und morsch. Pressia zerfetzt einen Rankenklumpen auf Bradwells Brust und reißt einen Strang herunter, der von El Capitáns Schulter bis über seinen Arm reicht.
El Capitáns Arm ist frei. Sofort fängt er an, die Ranken von sich und Helmud zu zerren, doch Bradwell kippt einfach um – und Pressia sieht das Blut, das aus Tausenden feinen Schnittwunden auf seinem ganzen Körper fließt. Sie geht in die Knie und rollt ihn auf die Seite. Die Flügel der Vögel in seinem Rücken hängen schlaff herab. Stirbt er auch, wenn sie sterben?
Sie legt die Hände auf seine Wangen. »Bradwell! Bradwell!«
Er wacht nicht auf. Er rührt sich nicht.
»Cap«, flüstert sie.
El Capitán schüttelt den Kopf. »Zwing mich nicht, es auszusprechen.«
»Es auszusprechen«, sagt Helmud.
»Er wird nicht sterben!«, ruft Pressia. »Das lasse ich nicht zu.« Sie packt Bradwell am durchlöcherten, blutgetränkten Hemd. »Bradwell! Ich bin’s, Pressia!« Ihre Stimme bricht. »Itchy knee!«, brüllt sie – dieselben Worte, die sie als Kind aufgesagt hat, als sie den Fluss aus Leichen überquert hat, die Bradwell und sie gemeinsam aufgesagt haben, als sie dachten, sie würden in den Armen des anderen erfrieren. »Sun, she go!«
Seine Lider beben und öffnen sich. Er kneift die Augen zusammen, bewegt die Lippen. »Hast du sie?«, flüstert er.
»Ja. Ich hab sie.« Ihre Hände zittern. Da ist viel zu viel Blut geflossen. In der Mitte ist Bradwells Hemd völlig durchnässt. Sie sucht sich ein kleines Loch im Stoff und reißt ihn auf. Die Stacheln haben einen länglichen Schnitt ins Zentrum seiner Brust gefressen. Sie haben ihn aufgeschlitzt, als wären es keine Dornen, sondern gezackte Reißzähne.
Pressia fängt an zu weinen. »Das wird schon wieder«, flüstert sie. »Das wird schon wieder.«
»Pressia«, sagt Bradwell. »Ich schaff das nicht. Aber du schaffst es. Du kannst sie retten.«
»Nein!«, ruft sie. »El Capitán! Sag ihm, dass das schon wieder wird!«
El Capitán schüttelt den Kopf, richtet sich mühselig auf und hält sich an einem dünnen Baumstamm fest. »Das kann ich nicht.« Er hangelt sich zum nächsten Baum und stolpert auf das Pferd zu, das elegant auf der Wiese steht. Pressia weiß, dass er ihr ein bisschen Zeit mit Bradwell lassen will. Damit sie sagen kann, was sie zu sagen hat – damit sie sich verabschieden kann.
Aber das macht sie nur wütend. Sie will sich nicht verabschieden. Es ist noch nicht vorbei. Sie legt die
Weitere Kostenlose Bücher