Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
hat er sich wieder im Griff. Er schiebt die Hand unter den Efeu, auf Bradwells Hals, und sucht nach einem Puls.
Zuerst findet er nichts. Doch als er fester zupackt, spürt er etwas – ein träges, schwaches Pulsieren. Bradwell lebt! »Komm schon!«, drängt er und zerrt den schweren, schlaffen Bradwell in seinem Efeugewand nach oben. Bradwell hustet. Seine Augen öffnen sich.
»Cap«, flüstert er. »Helmud. Meine Brüder.«
»Genau«, bestätigt El Capitán. »Deine Brüder sind bei dir.« Er greift nach dem Messer in seiner Gürtelschlaufe. Weg. Wo ist es? Im Luftschiff? Ist es aus der Schlaufe gerutscht, als er gestürzt ist? Oder hat Helmud ihn entwaffnet, als er bewusstlos war? »Helmud«, schimpft er. »Ich brauch ein Messer. Ich brauch ein gottverdammtes Messer!«
»Mein Messer«, erwidert Helmud, »mein gottverdammtes Messer.« Er zieht das Schnitzmesser hervor und reicht es ihm.
»Dein Messer.« El Capitán ist froh, dass er ihm ein Messer gegeben hat, dass er ihm so weit vertraut hat. Er will seinem Bruder in die Augen sehen, was jedoch gar nicht so leicht ist. »Danke, Helmud«, sagt er und meint damit: Danke für alles. Nicht nur für das Messer, sondern auch für damals, als er ihm die Spinne aus dem Bein geschnitten hat, und für vorhin, als er sich im Luftschiff um ihn gekümmert hat. Dafür, dass er sein Bruder ist – dass er immer bei ihm ist.
»Danke«, wiederholt Helmud, und El Capitán weiß, dass Helmuds Danke genauso viel bedeutet wie sein eigenes.
Er nimmt das Messer in die Faust und fängt an, die Ranken zu zerschneiden – zuerst die um Bradwells Hals. Doch kaum schnellen ein paar Efeustränge zurück, wachsen neue nach. Neue Dornen graben sich in Bradwells Haut, krallen sich fest und bohren frische Wunden. Bradwell ist so benommen, dass er kaum zusammenzuckt. Seine Augen blicken in die Ferne, seine Atmung verlangsamt sich zu einem gemächlichen Schnaufen.
El Capitán ist schwindlig vor Erschöpfung. Er säbelt weiter auf den Ranken herum, doch das macht es nur noch schlimmer – jeder nachwachsende Dorn reißt ein neues Loch, bringt ein neues Rinnsal Blut hervor. Was soll er tun? Schließlich lässt er das Messer fallen und stützt Bradwell nur noch, Schulter an Schulter, den Arm um die Ranken an seinem Oberkörper gelegt. Er sieht, wie die Vögel in Bradwells Rücken mit dem beengenden Flechtwerk kämpfen. »Wir lassen dich nicht allein«, beteuert er. »Wir stehen das gemeinsam durch.«
Genau in diesem Augenblick kitzelt ihn eine Ranke, die um sein Handgelenk gleitet und sich zusammenzurrt wie eine Manschette. Dornen stechen ihm in die Haut, doch El Capitáns Wille reicht nicht mal, um die Hand zurückzuziehen. »Wir bleiben bei dir«, sagt er noch einmal.
»Bleiben bei dir«, wiederholt Helmud.
Bradwell zwinkert zwei Mal. Dann schließen sich seine Augen, sein Kinn sinkt auf die Brust.
Und als die Ranken El Capitáns Arme hinaufklettern und seine Beine umschlingen, wird ihm klar, dass er und Bradwell für immer in dieser Position ausharren werden, verknüpft durch Dornen und Ranken und Blut. Wie Brüder. El Capitán weiß, was es heißt, an seinen Bruder gefesselt zu sein. Er wirft einen Blick durch die Bäume auf die Wiese, wo das Luftschiff schwerfällig auf die Seite gesunken ist. Auch sein Kopf fühlt sich unendlich schwer an. Er legt ihn auf Bradwells Schulter, Helmud legt seinen Kopf auf El Capitáns Schulter, während sich die Ranken schneller und schneller nach oben schlängeln, um sie in ihr Stachelnetz einzuspinnen. Er stellt sich vor, wie Pressia sie sieht, zunächst aus der Ferne: drei aufrechte Gestalten. Sie wird glauben, dass sie am Leben sind, dass sie am Rand der Wiese zusammensitzen und sich unterhalten wie Brüder – vielleicht über sie. Sie ist es, die sie aneinanderfesselt.
Inzwischen beißen die Dornen wie Zähne, ein scharfer, nagender Schmerz. Die Ranken sind lebendig. Fleischfressende Pflanzen, die Bradwell, Helmud und El Capitán verschlingen.
Vielleicht sind sie schon tot, wenn Pressia zurückkehrt. Wenigstens wird sie wissen, dass sie gemeinsam gestorben sind.
Helmud bäumt sich auf El Capitáns Rücken auf. Vielleicht hat er gerade begriffen, dass es zu Ende geht. »Bleiben hier?«, fragt er. »Bleiben?«
»Wir kommen hier nicht mehr weg«, antwortet El Capitán.
»Weg!«, ruft Helmud.
»Nein, Helmud.« El Capitán weiß, dass sie es nicht schaffen würden. »Wir werden hier sterben.«
»Nein.«
»Das war’s dann wohl,
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