Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
wie möglich zusammen, um die Kälte auf Abstand zu halten. Vielleicht kommen die Mütter, um sie zu holen, vielleicht kommen sie nicht. Aber egal was geschieht, jetzt ist sie allein. War sie in ihrem Leben schon mal richtig allein? Ganz, ganz allein? Frei?
Sie ist nicht mehr wie der Vogel, den sie im Kapitol aus Draht gebastelt und in einen Drahtkäfig gesperrt hat. Ihre Knochen sind nicht zart und biegsam. Sie ist ein ganz eigenes Wesen, fest in sich zusammengezogen. Sie ist, wie sie zu Beginn ihres Lebens war, ein Zellbündel, das so angeordnet ist, dass es sie ergibt – sie und niemand anderen. Sie. Und jetzt kann sie kaum fassen, dass sie hier ist, ganz allein – sie kann kaum fassen, was aus ihren Zellen geworden ist: ein Mensch, der kein kleines Mädchen mehr ist. Ein Mensch, der Partridge nicht zurück in sein altes Leben folgt. Der nicht mit ihm durch die Deadlands läuft, immer einen Schritt hinter ihm. Ja, sie fühlt sich gut an, diese unglaubliche Freiheit, anders als alles, was sie je erlebt hat – doch sie wird von einem scharfen Schmerz begleitet. Partridge ist nicht mehr da. Und eine Sekunde lang vermisst Lyda sogar die Person, die sie war, ehe sie Partridge gesagt hat, dass sie nicht mitkommen kann. Denn auch diese Person ist nicht mehr da. Sie ist nun eine andere, sie erkennt sich kaum wieder. Sie ist neu. Sie blickt in den Himmel, weil sie in den Himmel blicken kann, weil der Himmel da ist, über ihr. Es schneit wieder. Der Schnee ist so leicht, dass er eher schwebt und tanzt als fällt.
Schnee.
PARTRIDGE
Verräter
Seit Stunden gehen Partridge und Hastings schweigend nebeneinanderher. Vermutlich ist Hastings darauf programmiert, seine Worte mit Bedacht einzusetzen, vorsichtig, zweckgebunden und unmissverständlich. Aber was ist mit Partridge? Er hat einfach keine Lust auf Reden. Immer wieder sieht er Lydas Gesicht vor sich, ihren Blick, kurz nachdem sie ihn auf die Wange geküsst hatte. Sie war schon fort. Sie hatte sich schon von ihm verabschiedet, von ihm abgeschottet.
Im Norden wölbt sich der Kuppelbau des Kapitols, verhüllt von einem Nebel aus grauem Eis. Partridge fühlt sich einsamer denn je. Ein Stachel der Angst zuckt durch sein Inneres. »Na, Hastings«, sagt er, um sich irgendwie abzulenken, »wie geht’s deinen Eltern so?« Wahrscheinlich wird Hastings sowieso nicht antworten.
Doch Hastings wirft ihm einen scharfen Blick zu, als hätte er sich gerade erst erinnert, dass er Eltern hat. Dann suchen seine Augen seelenruhig den Horizont ab. Er überhört die Frage einfach.
»Deine Mom hat dir immer Napfkuchen in kleinen runden Förmchen geschickt. Weißt du noch? Und wenn sie nicht da war, hat dein Dad ständig Witze gerissen.« Hastings’ Eltern waren ein ungelenkes Ehepaar, genauso groß und dürr wie ihr Sohn. Sein Dad hat sich oft an markigen Witzen versucht, er wollte ein echter Kerl sein – eine weitere Gemeinsamkeit von Vater und Sohn. Hastings wollte auch immer dazugehören. Jetzt gehört er dazu, zumindest gewissermaßen. Ist er glücklich? Können Spezialkräfte überhaupt Gefühle wie Freude empfinden? Wissen seine Eltern, dass sie ihren Sohn verloren haben, obwohl er noch am Leben ist?
Partridge beschließt, Hastings’ Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, um vielleicht ein paar verschüttete Gefühle zu wecken. Was ist aus seinem Freund geworden? Was existiert noch, was nicht mehr? »Ist Weed noch bei dem Mädchen gelandet, dem er mit dem Laserstift Botschaften auf den Gemeinschaftshof geschrieben hat? Du hast gesagt, er ist ein Depp, der sich mit einer Deppin verabreden will.«
»Arvin Weed ist wertvoll.«
Das ist doch mal ein Anfang. »Wertvoll?«
Hastings nickt.
»Und bist du noch bei dem Mädchen vom Ball gelandet? Mit dem du damals geredet hast? Weißt du noch?«
Hastings bleibt stehen und fummelt am Mechanismus seiner Waffen herum, als müsste er die Ladevorrichtungen überprüfen.
»Lyda kommt nicht mit. Das ist dir doch aufgefallen? Aber das mit ihr und mir ist noch nicht vorbei.«
Hastings hält inne und sieht ihn mit einem beinahe mitleidigen Blick an. Partridge ist sich nicht sicher, ob er ausgerechnet auf Mitleid abzielen sollte.
»Was denkst du, Hastings, was wird mein Vater mit mir machen? Weißt du irgendwas? Hast du dazu was zu sagen?«
Offenbar nicht.
Partridge verpasst ihm einen Faustschlag auf den Arm – etwas fester als beabsichtigt. »Mann, Hastings! Red mit mir, verdammt noch mal! Was hab ich zu erwarten?«
Hastings
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